[Schweiz] Marsch für´s Läbe: Politischer Prozess und Stellungnahme des Angeklagten

Quelle: barrikade.info

Am Freitag, dem 26. März 2021, stand der erste Angeklagte des erfolgreichen Protests gegen den „Marsch für’s Läbe“ vor Gericht. Viele Menschen haben sich mit dem Angeklagten solidarisiert und vor dem Gericht zu einer Kundgebung aufgerufen. Es folgt eine kurze Schilderung der Mobilisierung und die Stellungnahme des Angeklagten.

Nachdem eine Rede gehalten wurde und die Polizei mehrere Personenkontrollen durchführte, darunter auch an Journalist*innen, kam es zu einem Handgemenge mit der Polizei. Eine spontane Demonstration mit ca. 40 Menschen löste sich bei der Bäckeranlage selbstbestimmt auf. Eine Person wurde verhaftet und erst am nächsten Tag aus dem Polizeigefängnis entlassen. Solidarität mir den kontrollierten und verhafteten Menschen!

Der Angeklagte wurde, trotz einer sehr schwachen Beweislage in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen. Dies bestätigt, dass die Justiz eine patriarchale Klassenjustiz ist, wie sie in der Stellungnahme vor Gericht und auf der Strasse benannt wurde. Der Kampf geht weiter!

„Ich habe mich entschieden, heute hier Stellung zu beziehen, weil ich es als notwendig betrachte, die Ereignisse um den „Marsch für’s Läbe“ und dessen Gegenprotest von 2019 politisch und historisch zu kontextualisieren. Dafür besteht Bedarf, weil der liberale Diskurs – so bin ich der Überzeugung – an der Oberfläche verweilt und unfähig ist, grundlegende strukturelle Zusammenhänge zu erkennen.

Als stellungnehmende Person spreche ich aus der Perspektive eines weissen Cis-Mannes. Diese Stellungnahme selber ist in enger Zusammenarbeit mit Flint (also Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre und trans) Personen verfasst worden. Auch wenn verkürzt, greifen die folgenden Formulierungen auf einen reichen Schatz an Wissen zurück, der von unzähligen Aktivistinnen angereichert wurde.

Ich benutze im Folgenden den Begriff «Frau» als Analysekategorie, da ich davon ausgehe, dass Geschlechteridentitäten innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu Trägern bestimmter Arbeitsfunktionen wurden, die nicht als rein kulturelle Angelegenheiten betrachtet werden können.
Nichtsdestotrotz ist «Frau» nicht als essentialistische Kategorie zu verstehen, sondern als historisch gewordene Position innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Menschen werden nicht als Frauen geboren, sie werden dazu gemacht.

Am Nachmittag des 14. Septembers 2019 beobachtete ich vom Parkplatz zwischen Josefwiese und Viaduktbögen aus Polizisten, die auf der Viaduktbrücke standen. Diese bewarfen von oben die auf dem Parkplatz versammelten Demonstrantinnen mit Tränengas-Granaten. Wenige Sekunden danach hörte ich einen lauten Knall und wurde von mehreren Gummischrottgeschossen am Oberkörper und am Hals getroffen. Dabei verlor ich das Bewusstsein und fiel zu Boden. Als ich am Boden liegend wieder zu Bewusstsein kam, sah ich die Stiefel von ca. vier Einsatzpolizisten um mich stehen. Sie drehten mich von der Seitenlage auf den Bauch, wobei mein linker Arm, weil er leicht angewinkelt am Boden lag, zwischen Boden und meinem Oberkörper eingeklemmt wurde. Ein Polizist nahm meinen rechten Arm in einen schmerzhaften Polizeigriff. Weitere Polizisten drückten meinen Körper und meinen Kopf mit voller Wucht auf den Boden: Ich spürte einen Unterarm auf meinem Hals und einen Stiefel auf meinem Rücken. Der Polizist, der den Sicherungsgriff ausübte, schrie: «Hören sie auf, Widerstand zu leisten! Halten sie den linken Arm hinter den Rücken.» Da ich mit voller Kraft auf den Boden gedrückt wurde und – wie bereits erwähnt – mein Arm zwischen Boden und Körper eingeklemmt war, war mir dies jedoch unmöglich. Während der Polizist
den Sicherungsgriff intensivierte, so dass er mir höllische Schmerzen und eine innere Verletzung am rechten Schulterblatt zufügte, drosch ein weiterer Polizist mit geballter Faust auf meinen Oberkörper ein. Dabei schrien beide, in aggressivem Ton wild durcheinander. Als ich unter den extremen Schmerzen, die mir zugefügt wurden, endlich Luft holen konnte, versuchte ich, mit gequälter Stimme, die Polizisten darauf aufmerksam zu machen, dass, das, was sie von mir wollten, in der beschriebenen Lage unmöglich sei. Sie erwiderten ein weiteres Mal in gewaltvollen Schreien, dass ich aufhören soll, Widerstand zu leisten. Meine Schmerzen intensivierten sich weiter. Ich hatte noch nie solche Schmerzen empfunden und ja, für einen kurzen Augenblick hatte ich Angst um mein Leben.

Als ich nach fast fünf Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, verfolgte ich rückwirkend die mediale Berichterstattung und das Politikum um den Gegenprotest des «Marsch für’s Läbe». Offenbar brannten einige Container; die Demonstrierenden und die Polizei lieferten sich gemässigte Strassenschlachten und Eltern mit Kinderwagen wurden von der Josefwiese mit Tränengas vertrieben.

Feministische Bewegungen, progressive und links-emanzipatorische Kräfte hatten sich an diesem Tag die Strasse genommen, um den Aufmarsch ultrarechter Abtreibungsgegnerinnen zu verhindern.

Die geschilderten Erlebnisse und Ereignisse werfen eine zentrale Frage in Bezug auf den «Marsch für’s Läbe» und dessen Gegenprotest auf. Nämlich, die Frage der Gewalt.
Dass im Nachgang des Protests vom Schweizer Fernsehen über die NZZ bis hin zur Sozialdemokratie fast ausschliesslich von «Gewalteskalation» und «gewalttätiger Demonstration» gesprochen wurde, erstaunt uns nicht. Ebenso wenig erstaunt, dass die Demonstrierenden als «gewaltbereite Gruppen» und «Mobs» denunziert wurden. Allerdings führt uns dieser Diskurs vor Augen, was für ein eindimensionales, ahistorisches und unkritisches Selbstbild die gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft von sich selbst hat.

Der existierende Wohlstand und die viel beschworenen Errungenschaften wie politische Partizipation, individuelle Freiheit, rechtliche Gleichheit usw. werden dabei als Endprodukt eines unaufhaltsamen Fortschrittes hingestellt, welcher ohne jegliche Widersprüche, von oben organisiert und im Interesse der Allgemeinheit vorangetrieben wurde. Rechtsstaatlichkeit, die liberale Demokratie und kapitalistische Produktionsverhältnisse erscheinen so als Resultat eines sich stetig verbessernden Prozesses.

Doch… ist dem wirklich so?

In dieser Erzählung wird verschleiert, dass die Geschichte des sozialen Fortschritts immer eine Geschichte der Gewalt ist.
Besonders betroffen von dieser Gewalt sind FLINT-Personen (also Frauen, Lesben, inter-, nicht- binäre- und Transpersonen), marginalisierte und rassifizierte Menschen sowie diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen und dadurch lohnabhängig sind.
Sie waren aber nicht nur Opfer dieser Gewalt, sondern sie haben sich ihr wieder und wieder ermächtigt, um das einzufordern, was allen Menschen zusteht: Ein selbstbestimmtes Leben, fernab von jeglicher Fremdherrschaft.

Aus dieser Perspektive betrachtet ist unsere gemeinsame Geschichte eine Geschichte der Gewalt und der Gegengewalt. Sie ist eine Geschichte der Widersprüche, der Brüche und Konflikte. Sie ist auch eine Geschichte von Selbstorganisation und Kollektivierung der Fürsorge. Vor allem ist sie aber eines: eine Geschichte der Kämpfe.

Die folgenden Ausführungen sollen aufzeigen, dass ein zentrales Terrain dieser Kämpfe der Körper der Frauen ist, weil ihm historisch die Aufgabe der sozialen Reproduktion zugeschrieben wird. Es ist also genau die politische Frage weswegen im Rahmen des Gegenprotests des «Marsch für’s Läbe» queerfeministische Bewegungen auf die Strasse gegangen sind.

Was ist damit gemeint, dass jede Geschichte eine Geschichte der Kämpfe ist?

Ein Blick in die Geschichte der Schweiz – nicht als Inselstaat, sondern als global vernetzte und in weltumspannende Abhängigkeiten verwickelte Nation – kann uns dabei weiterhelfen:
Am 24. Juni 1782 wurde im Kanton Glarus eine der letzten Hexen in Europa hingerichtet. Eine Frau wurde von der damaligen Justiz ermordet, weil sie eine Frau war. Obwohl die Exekution von Anna Göldi in humanistischen Kreisen und unter Journalisten zu heftiger Kritik führte, war das Ermorden von Frauen, die der Hexerei bezichtigt wurden, eine Praxis, die Jahrhunderte lang als legitim betrachtet wurde. Von den Gesellschaften sowie von den Autoritäten.

Was waren die Gründe, dass in Europa zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert bis zu 60’000 Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden und davon als europaweite Rekordzahl 6000 in der Schweiz?

Die erwähnten Jahrhunderte waren bekanntlich Zeiten des Umbruchs. Die mittelalterlichen feudalen Verhältnisse wurden allmählich von modernen kapitalistischen abgelöst. Der Kapitalismus reifte aber nicht – wie so oft angenommen – in einem friedvollen Zustand innerhalb der alten Ordnung an, vielmehr war er eine Antwort, ein Kompromiss der Feudalherren, der Kaufleute, der Bischöfe und Päpste – kurz, der Machthabenden – auf Jahrhunderte lange soziale Konflikte.
Innerhalb der antagonistischen Kräfte dieser sozialen Konflikte, in den spirituellen und antiklerikalen Gemeinschaften, in den antikolonialen Bewegungen oder innerhalb des feudalen Proletariats, spielten Frauen eine zentrale, wenn nicht DIE zentrale Rolle überhaupt. Diese Kräfte und Bewegungen lehnten die neuen Zwänge, die der Kapitalismus mit sich brachte, ab.In ihren besten Momenten forderten sie eine egalitäre, auf geteiltem Wohlstand und auf der Ablehnung von Hierarchien und autoritärer Herrschaft beruhende Gesellschaftsordnung.

Die Frauen waren nicht nur als das verbindende und fürsorgende Glied die Speerspitze dieser Bewegungen, sie waren auch die Trägerinnen der sozialen Reproduktion. Nichts war gefährlicher für die sich neu herausbildende herrschende Ordnung als eine Frau, die selbstbestimmt über das elementare Reproduktionsmittel – nämlich ihren Körper – frei verfügen konnte: Das heisst, frei zu entscheiden, wann und mit wem sie Kinder kriegt oder wie diese zu erziehen sind und was ihnen beigebracht werden sollte – um nur einige Beispiele zu nennen.

Der rebellische Körper der Frauen musste so gezwungenermassen gewaltvoll kontrolliert, diszipliniert und verfügbar gemacht werden. Eine von vielen Methoden war ihre Denunzierung als Hexe, als Ketzerin, als Revoltierende, die es oft nach langer Folter zu töten galt.

Was hat das alles mit uns zu tun, kann man sich hier Fragen. Dies seien doch Geschichten einer längst vergangenen und düsteren Zeit.

Blicken wir nur 100 oder 150 Jahre zurück, sehen wir, dass die Zustände ähnlich gewaltgeladen sind.
Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Blütezeit des Industriekapitalismus, die Zentren des globalen Nordens massive Wachstumsschübe verzeichneten, herrschten in ihren Produktionsstätten dermassen miserable Arbeitsbedingungen, dass es schwierig ist – abgesehen von den Kolonien – ein historisches Äquivalent zu finden. Durch die erhöhte Produktivität und die Automatisierung, stieg die Nachfrage für unausgebildete, billige Arbeitskräfte. Frauen und Kinder wurden in Massen in die Fabriken gedrängt, wo sie zu tiefsten Löhnen vierzehn oder sechzehn Stunden am Tag ausgebeutet wurden. Nicht selten kam es zu Verletzungen, wenn nicht sogar zum Tod an den Maschinen. 1870 betrug der Anteil der Frauen in der Schweizer Textilindustrie 66%. Dabei betrug der Lohn einer ausgebildeten Arbeiterin ein Drittel weniger als der eines männlichen Hilfsarbeiters.

Hier wird klar, dass Gewalt nicht immer einen unmittelbar personalen Akteur benötigt. Gewaltförmigkeit kann staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen inhärent sein. Daher die passende Bezeichnung «strukturelle Gewalt».

Wie dem auch sei, der Zustand in den Fabriken führte zu einer tiefen Krise der sozialen Reproduktion der Arbeitskraft: Wer sorgte nun dafür, dass die Lohnarbeiter und -arbeiterinnen umsorgt, verpflegt und emotional aufgebaut wurden? Wer hatte unter diesen Umständen noch Zeit, Kinder zu kriegen und diese gross zu ziehen?
Die herrschende Klasse antwortete auf diese Krise mit der Trennung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre. Den Frauen wurden dazu von «Arbeitgebern», Nationalökonomen und Staatsträgern gewisse Charaktereigenschaften zugeschrieben wie Schwäche, Verletzlichkeit, Emotionalität, Häuslichkeit, usw. Diese Zuschreibungen waren ein gezieltes Mittel, um Frauen aus der Öffentlichkeit in die vier Wände des privaten zu verbannen, wo sie sich nun voll und ganz der sozialen Reproduktion widmen sollten. Die Vorherrschaft des Mannes über die Frauen – das Patriarchat – wurde so gefestigt. Die den Frauen zugeschriebenen Aufgaben wurden als indirekte und als für den Markt nicht-produktive Arbeiten abgewertet und unsichtbar gemacht. Die Mehrwertproduktion – bis heute das grundlegende Standbein des Kapitalismus – wurde durch diese spezifische Unsichtbarmachung der sozialen Reproduktion als Arbeit erst ermöglicht.

Als Antwort auf diese Gewalt traten soziale Bewegungen auf die Bühne der Geschichte:
Die sogenannte erste Frauenbewegung, die sich für politische Rechte, das Recht auf Eigentum aber auch für die Verfügung über ihre eigenen Körper – z.B. die Verweigerung von Sex – einsetzte, fand sich in einem politischen Minenfeld. Sie wollte sich weder vorschreiben lassen, nicht mehr Lohnarbeit zu tätigen, was wie erwähnt die männliche Dominanz verfestigte. Sie wollten sich aber auch nicht weiter auf Kosten der sozialen Reproduktion in den Fabriken ausbeuten lassen.

Sie ermächtigten sich des Begriffes der „Emanzipation“: Die Befreiung der Frauen. Sie kämpften für ihre Rechte, mit unterschiedlichen Anliegen und auf unterschiedliche Weisen. Selbstverständlich war die Bewegung von internen Konflikten durchzogen. Doch die Frauen dieser Zeit organisierten sich gegen die erläuterten Missstände, von der Küche über die Strasse bis in die Fabrik.

Um die Geschichte der Gewalt zu begreifen, müssen wir über die Schweizer Landesgrenzen und den europäischen Kontinenten hinaussehen.

Während die Staatsträger, Wissenschaftler und andere Eliten propagierten, Frauen durch legislative Massnahmen vor der kurz erwähnten strukturellen Gewalt zu schützen, wurde in Bezug auf die Peripherien, auf die Kolonien und Imperien, auf die Plantagen und die Edelmetallminen das Gegenteil propagiert. Die Gewalt, die den kolonialisierten Subjekten, den versklavten und den systematisch marginalisierten Menschen angetan wurde, musste legitimiert werden.

Auch hier nahmen Schweizer Wissenschaftler eine Pionierrolle ein. Louis Agassiz, nach dem das Agassizhorn im Kanton Bern benannt ist, beeinflusste mit seiner sogenannte Rassenlehre europäische Imperialisten und Rassisten auf der ganzen Welt, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch wenn der Schweizer Staat selber nicht über Kolonien verfügte, war die Schweiz privatwirtschaftlich, sowie politisch in den Kolonialismus verstrickt. Im Herzen von Zürich – vor dem Hauptbahnhof – steht die Statue des Vorzeige-Eidgenossen und Symbolträgers des Schweizer Liberalismus Alfred Escher. Die Familie Escher erwirtschaftete einen Teil ihres Wohlhabens mit einer Sklavinnenplantage auf Kuba, was die wohl unbestreitbar gewaltvollste Art der Ausbeutung der Arbeitskraft ist. Das imperiale Zeitalter und die Jahrhunderte der Sklaverei davor wurden nicht zerschlagen, weil die, die davon profitierten, eines Morgens plötzlich mit der Überzeugung aufwachten, dass ihre Taten unmenschlich seien und sie damit aufhören sollten. Nein, es waren Konflikte und Widersprüche einer Vielzahl an Interessengruppen – und zu einem Grossteil waren es indigene antikoloniale Bewegungen, die diesen Verhältnissen mit unterschiedlichsten Widerstandsformen – vom zivilen Ungehorsam über Konsumboykott bis hin zu bewaffneten Aufständen – ein Ende bereiteten.

Doch was hat diese Realität mit der Geschichte der Frauen und der ihnen zugeschriebenen Reproduktionsarbeit zu tun?

In der Geschichte der Sklaverei, wovon die Schweiz, wie vorher geschildert, durchaus aktiver Teil war, war es üblich, dass die Plantagenbesitzerinnen das reproduktive Verhalten der versklavten Menschen zu kontrollieren versuchten, indem sie diese dazu zwangen in einem gewissen Zeitraum weniger oder mehr Kinder zu bekommen, je nachdem wie viele Arbeitskräfte auf dem Feld gerade benötigt wurden. Bekanntlich waren die Geburtenraten auf den Plantagen trotzdem «unnatürlich niedrig». Die Verweigerung der versklavten Frauen, Kinder zu kriegen, war ein offener Widerstand gegen die Aufrechterhaltung der Sklaverei und soll hier als Paradebeispiel stehen, dass der Körper der Frau und die an ihn geknöpfte Reproduktion das zentrale Moment emanzipatorischer Freiheitskämpfe darstellt.

Auch der bereits geschilderte Versuch, die Frauen auf den Haushalt zu reduzieren, welcher in der Schweiz in den 1930er Jahren zunehmend an Bedeutung gewann, muss im Zusammenhang mit kolonialen Verstrickungen gelesen werden. Die kolonisierten Frauen wurden in Missionarszeitschriften, Völkerschauen sowie in der Unterhaltungsliteratur als irrational getrieben und von exzessiver Sexualität strotzend dargestellt. Im Kontrast zu diesem rassistischen Stereotyp, wurde die Schweizer Hausfrau, die sich in Treue und Bescheidenheit um die Reproduktion kümmerte, als Ausdruck höchster Zivilisiertheit und als Vorbild für die ganze Welt hingestellt. Diese Darstellungen dienten hierzulande nicht zuletzt den weissen Schweizer Frauen, sich mit ihren nicht vorhandenen Bürgerrechten und beruflichen Perspektiven, mit ihrem Status als politisch, sozial und als ökonomisch minderwertiges Mitglied der Gesellschaft zu versöhnen.

Mit einem kritischen Blick in die Geschichte verstehen wir, dass die Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen in den Kolonien den wirtschaftlichen Aufschwung der europäischen Zentren erst ermöglichten. Der gegebene Wohlstand, wofür sich hierzulande immer wieder stolz auf die eigene Schulter geklopft wird und von dem so viele profitieren, wäre ohne die oben erwähnte Geschichte der Gewalt und der Gegengewalt nicht vorhanden.

Hier scheint es passend, die zu Beginn formulierte Kritik des bürgerlichen Geschichtsverständnisses nochmals aufzugreifen:
Alle diese Beispiele – die Hexenverfolgung, die sogenannte Hausfrauisierung und der Imperialismus – zeigen uns, dass die bürgerliche Erzählung des sozialen Fortschrittes im Interesse des Allgemeinwohls ein Mythos ist!
Ein lineares, gar evolutionäres Geschichtsverständnis, wonach die Gegenwart die höchste Form der menschlichen Zivilisation ist, lässt sich so nicht halten. Die grösste Täuschung dieser Erzählung ist, dass die Errungenschaften von «oben» – also von den herrschenden, staatstragenden und wirtschaftsmächtigen Klassen – bereitgestellt, verfügbar und allen zugänglich gemacht wurden.

Jede Art des sozialen Fortschrittes und somit der gesellschaftlichen Veränderung scheint vielmehr in den Momenten zu entstehen, in denen sich verschiedenen soziale Gruppen auf der Bühne der Geschichte gegenüberstehen und ihre antagonistischen Interessegegensätze aushandeln. Und auf dieser Bühne sind die Mittel, mit denen die Interessengegensätze ausgehandelt werden, alles andere als gleich verteilt.
Soziale Errungenschaften werden immer von unten – von antagonistischen Kräften und emanzipatorischen Bewegungen, die von den herrschenden Ideen ihrer Zeit unterdrückt werden – angestiftet.

Zwei weitere historische Beispiele, einerseits die Geschichte des Wahl- und Stimmrechts der Frauen und anderseits die unermüdlichen Kämpfe um die Selbstbestimmung des Körpers – also, das Recht auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch, verdeutlichen diese Feststellung. Wir kommen unserer Gegenwart langsam näher.

Wir alle werden davon gehört haben: Dieses Jahr feiert die Schweiz den eher traurigen 50. Geburtstag des Frauenstimmrechts. Genau läppische 50 Jahre ist es her, dass die Frauen – und somit mehr als die Hälfte der Schweizer Gesellschaft – ihre Rechte als Bürgerinnen erhalten – oder eben besser gesagt – erkämpft haben. Damit wurde die historische Forderung der vorher erwähnten sogenannten alten Frauenbewegungen erfüllt.

Doch Ende der 60er Jahre traten neue feministische und queere Gruppen auf den Plan. In der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1971, die Nacht vor der Volksabstimmung, plakatierten Aktivistinnen die Genfer Altstadt voll: «Das Wahlrecht löst das Problem der Frauenunterdrückung nicht, der Kampf muss weiter gehen». Wenn wir uns die gegenwärtige Situation mit Lohnungleichheit, niedrigeren Renten, Mehrfachbelastung oder zunehmender Gewalt an Flint-Personen ansehen, stellen wir fest: Die Gleichstellung der Geschlechter ist 2021 faktisch nicht verwirklicht. Die Feststellung der Genfer

Aktivistinnen, wonach der politische Befreiungskampf über den Parlamentarismus und die formale Gleichstellung hinausgehen muss, hat sich somit bestätigt.
Die eigene Kontrolle über die soziale Reproduktion war ein zentrales Thema der neuen feministischen Bewegungen, die aus den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 hervor gingen. Ein sicherer und auch legaler Schwangerschaftsabbruch war eines ihrer wichtigsten Ziele. Es wurde im Namen von Selbstbestimmung, Autonomie und zur Förderung der körperlichen Integrität für die Straflosigkeit und die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gekämpft. Entkriminalisierung bedeutete aber nicht nur eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, sondern die Entkriminalisierung der Frauen. Und so wurde der Kampf für den straflosen Schwangerschaftsabbruch ein Teil des Kampfes für die Befreiung der Frauen.

Weil das Thema von den bürgerlichen Fronten tabuisiert wurde, griffen die Aktivistinnen zu radikalen und provozierenden Aktionsformen. Ein Beispiel hierfür: Als 1975 im Nationalrat die Debatte über die Legalisierung lief, stürmen 15 Demonstrantinnen den Nationalratssaal und beschnmissen die Parlamentarier mit nassen Windeln.
Wie dem auch sei, es war ein langes institutionelles Hin und Her bis am 23. März 2001 die Fristenlösung angenommen wurde, welcher ohne die militanten Kämpfe der neuen feministischen und queeren Bewegungen unvorstellbar gewesen wäre.

Und wo stehen wir heute?

Wie vorher erwähnt, sind wir von einer realen Gleichstellung der Geschlechter meilenweit entfernt. Während am Feministischen Streiktag 2019 über eine halbe Million FLINT- Personen mobilisiert wurden, tragen jedes Jahr am 8. März – dem internationalen feministischen Kampftag – Unzählige ihre Wut auf die Strassen. Dabei wird überhaupt nicht nur Gleichstellung gefordert, vielmehr werden Unterdrückungsverhältnisse der Geschlechter in allgemeinen gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen verordnet, die es ein für alle Mal zu überwinden gilt.
Auch hier spielt eine spezifische Form von Gewalt eine Rolle. Häusliche Gewalt an Frauen und Feminizide – Ermordungen von Frauen, weil sie Frauen sind, nehmen jährlich zu. Alle zwei Wochen wird so einem Menschen das Leben genommen. Das ist die hässliche Fratze des Patriarchats, welches in unserer Gesellschaft bis heute wohlauf weiterlebt. Die sogenannten «Ni Una Menos» – also, nicht eine einzige (Frau) weniger – Bewegungen wehren sich dagegen. Bei jedem Feminizid wird zum Gedenken auf dem ehemaligen Helvetiaplatz, heute «Ni Una Menos-Platz» ihn Zürich aufgerufen. Die Polizei, seit jeher ausführendes Organ der herrschenden Klasse, löste diese in den vergangenen Wochen auf. Während der Staat mit seinem Gewaltmonopol unfähig ist, Feminizide und
häusliche Gewalt an Flint Personen zu verhindern, werden Menschen, die für dieses Anliegen demonstrieren, vom Staat kriminalisiert.

An dieser Stelle scheint es notwendig, sich der Frage des Rechtsstaates, des Rechts und der Justiz zu widmen. Welche Rolle spielt der Staat in den aufgeführten Konflikten?
Der Rechtstaat bewahrt die Rechtssicherheit durch Gesetzgeberinnen, Regierung und Justiz. Diese Institutionen und alle Mitglieder unserer Gesellschaft müssen sich theoretisch im selben Masse an diese Gesetze halten. Recht, Gesetze und Verfassung sind aber weder vom Himmel gefallen, noch sind sie friedvoll innerhalb der bestehenden Ordnung auf natürliche Weise herangewachsen. Gesetzte werden gemacht und auch sie sind ein Ausdruck verschiedener Konflikte. Das zeigt sich an den erwähnten Rechten wie politischer Partizipation und körperlichen Selbstbestimmung sowie an rückschrittlichen und repressiven Gesetzgebungen wie dem Polizeigesetz und dem aktuellen sogenannten Burkaverbot. Durch seine historische sowie gegenwärtige Nähe zu den Mächtigen und ihren Interessen ist der Rechtsstaat kein unparteiischer Schiedsrichter, der neutral über Recht und Unrecht wacht oder dieses umsetzt. Vielmehr ist er ein Ausdruck des Kräfteverhältnisses innerhalb der Gesellschaft. Es ist ein offenes Geheimnis, dass in diesem Kräfteverhältnis Lobby- und Unternehmerverbände, die Besitzenden und Verbündeten des Kapitals sowie konservative Fronten stärker repräsentiert sind als alleinerziehende, lohnabhängige Mütter, Menschen, die sich binären Genderpositionen widersetzten, von Rassismus betroffene Migrantinnen und der hart arbeitende Maurer, der mit 50 Jahren einen Rückenschaden hat. Aus dieser Perspektive sind Recht und Gesetz nicht apolitisch und neutral, sie sind Ausdruck gewisser Partikularinteressen.

Der Staat wirkt gerade dadurch im Interesse der herrschenden Gruppen, indem er sich neutral gibt. Gerade in dieser Neutralität, nämlich, indem er bestimmtes Regelwerk garantiert, reproduziert er die objektiv existierende Ungleichheit unter dem Schleier der abstrakten rechtlichen Gleichheit. So wird das Recht auf Privateigentum an meinem alten verrosteten Fahrrad gleich geschützt wie das Recht auf Privateigentum an einem grossen Multikonzern, indem sich die geschilderten Zwänge und Ausbeutungsverhältnisse fortschreiben lassen. An dieser Stelle das treffende Zitat: «Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Stassen zu betteln und Brot zu stehlen.»

Die Funktion des Staates und der Institutionen ist es somit, die bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse aufrecht zu erhalten.
Hier will ich nochmals auf zwei zentrale Punkte dieser Stellungnahme zurückkommen.

1. Die Erhaltung der real existierenden, materiellen Ungleichheit ist auf überindividueller Ebene angesiedelt, was heisst, dass sie sich in den Strukturen der gegenwärtigen sozialen Realitäten manifestieren. Es geht also nicht um die Ideen, Entscheidungen und den Willen der einzelnen Machthabenden, sondern um eine Struktur, die diese Entscheidungen, diesen Willen und diese Ideen erst hervorbringen. Das war gemeint, als zu Beginn der Stellungnahme davon gesprochen wurde, dass der liberale Diskurs an der politischen Oberfläche verbleibt und somit nicht von Symptom und struktureller Ursache – in Bezug auf die gegenwärtigen Krisen – unterscheiden kann.

2. Herrschaft wird in der bürgerlichen Gesellschaft nicht alleine durch Zwang erzeugt, sondern durch alltägliche und kulturelle Praxen, durch Konsens und durch die Produktion zustimmungsfähiger Ideen vermittelt. Partikulare Interessen werden so gezwungenermassen als Allgemeininteressen hingestellt. Das ist der Grund, warum so viele Menschen ihre Ausbeutung und Unterdrückung akzeptieren. Nichtsdestotrotz werden auch Recht und Gesetz durch Zwang ausgeführt – bekanntlich eine Form von Gewalt.

Das politische Moment an Recht und Gesetz lässt sich wunderbar an einem meiner Anklagepunkte dem «Landfriedensbruch» illustrieren. Als ein Relikt des Mittelalters wurde und wird der Paragraph benutzt, um Bewegungen und Einzelpersonen vor Gericht zu bringen, die auf der Strasse im öffentlichen Raum für ihre Rechte kämpfen. Er sorgt dafür, dass der «öffentliche Frieden» nicht durch Massenproteste und Ausschreitungen gestört wird. Die Träger*innen der Macht jedoch müssen sich durch ihren repräsentativen Zugang zu den Institutionen der bürgerlichen Demokratie nicht die Strasse nehmen, um sich Gehör zu verschaffen und für ihre Interessen einzustehen. Es sind die von struktureller Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung Betroffenen, die dies tun müssen. Durch den Landfriedensbruch werden somit die politische Meinungsäusserung und der politische Widerstand kriminalisiert.

In diesem Zusammenhang sind die massenhaften Landfriedensbrüche, die im Rahmen des Gegenprotests zum «Marsch für’s Läbe» verhängt wurden, zu lesen. Und somit bleibt uns nichts anderes übrig als das ineinandergreifende Vorgehen von Exekutive, Legislative und Judikative – also auch die erwähnte Polizeigewalt und dieser Prozess – als ein politisches Vorgehen zu entlarven.

Nicht in erster Linie wegen den Entscheidungen und dem Willen der involvierten staatstragenden Individuen ist dieses Vorgehen politisch, sondern wegen der ausgeführten strukturellen Konstituierung des Staates an sich.

Nach allem Gesagten sind die queerfeministischen Bewegungen, die sich am 14. September 2019 die Strasse genommen haben, nicht als isoliertes Phänomen zu beurteilen, sondern stehen sie ganz offensichtlich in einer historischen Kontinuität zu den hier aufgezählten Kämpfen für eine gerechtere Welt. Sie sind ein Beispiel für Bewegungen der Gegengewalt, die auf die Bühne der Geschichte treten, um den ungleichen Machtverhältnissen ein Ende zu setzen.

Unter den wenigen historischen und gegenwärtigen Beispielen, die ich genannt habe, sehe ich das, was auch immer an den Gegenprotesten gegen den «Marsch für’s Läbe» geschah, nicht nur als legitim, sondern als äusserste Notwendigkeit. Denn die von emanzipatorischen Kräften mühselig und oft blutig erkämpften tatsächlichen sozialen Errungenschaften, gilt es zu verteidigen – und das, mit allen möglichen Mitteln: Für eine feministische Revolution!“

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