quelle: enough is enough14
Griechenland. Wir haben so viel über die sich ständig verändernde Situation hier draußen berichtet, weil sie für Anarchist:innen von Bedeutung ist. Diese Berichte spiegeln unsere Prioritäten als anarchistisches Kollektiv, welches eine rein schwarze Fahne schwenkt, sowie unsere eigenen Erfahrungen oder Perspektiven auf das, was um uns herum passiert, wider. In der Vergangenheit haben wir uns selbst, und wahrscheinlich auch die Leser:innen damit überfordert, dass wir stets unser Bestes taten, „alles“ zur Diskussion zu stellen. Wir übernehmen die Verantwortung für Dinge die fehlen, aber unsere Absicht ist es, die grenzüberschreitende Solidarität zu fördern und andere zu informieren, damit sie die Situation hier besser verstehen und sie mit ihrer eigenen Situation in Zusammenhang bringen können. Informationen und Links finden sich am Ende dieses Berichts, ebenso wie bei allen anderen Berichtenden, über welche ihr auch laufend Updates und Informationen zur Situation finden könnt.
Eingereicht bei Enough 14. Ursprünglich veröffentlicht von RadioFragmata. Übersetzung Bratislav Metulski
Es ist Anfang April und die mentalen Auswirkungen des Lockdowns sind durch den Wechsel der Jahreszeiten noch surrealer geworden. Die Akte des Widerstands in den letzten Wochen waren sowohl schön als auch erschreckend. Derweil schränkt die Regierung weiterhin unsere Freiheiten ein, während sie Griechenland für Tourist*innen und Geschäftsleute öffnet – ungeachtet der Infektionsraten, welche im Schnitt bei 3000 bis 4000 Fällen von COVID-19 pro Tag liegen, womit Griechenland an drittletzter Stelle in der EU steht, wenn es um die Handhabung der Krise geht. Im folgenden Beitrag beschreiben wir den Abschluss des Hungerstreiks von Dimitris Koufontinas, die Zusammenstöße vom 9. März und mehr.
Dimitris Koufontinas: Widerstand vom Intensivbett aus
Wir freuen uns, berichten zu können, dass Dimitris Koufontinas, ein politischer Gefangener des griechischen Staates und angehöriger des 17. November, noch am Leben ist, nachdem dieser einen 65-tägigen Hungerstreik überlebt hat. Der Staat hatte seine Forderungen zurück in jenes Gefängnis verlegt zu werden, in welchem er den Großteil seiner Strafe verbracht hat (näher bei seiner Familie), trotz potenziell tödlichem Hungerstreik, wiederholt abgelehnt. Er beendete seinen Hungerstreik auf Druck seiner Familie und bestimmter politischer Gruppen und gab an, dass er alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft habe. Obwohl er mit dauerhaften gesundheitlichen Folgen zu rechnen hat, so hat er auch sehr viele dazu inspiriert, auf die Straße oder in die Nacht hinaus zu gehen.
Koufontinas konnte seine Forderungen nicht durchsetzen, wenngleich es ihm nur um seine angeblichen gesetzlichen Rechte ging. Allerdings war die Aussicht auf Erfolg von vornherein unwahrscheinlich, insbesondere unter dieser Regierung, welche unmittelbar von der gleichen autoritären Dynastie abstammt, gegen welche Koufontinas einst kämpfte. Wir feiern seinen Akt des Trotzes und die katalysierende Wirkung, welche er für andere Rebell*innen hatte. In unserem letzten Bericht haben wir unsere politischen Differenzen mit Koufontinas, welcher nie ein Anarchist war, dargelegt; gleichzeitig ist es wichtig, Solidarität mit ihm als kämpfenden politischen Gefangenen auszudrücken.
Wochenlang gingen kleine Gruppen mutiger Menschen tagtäglich auf die Straße, um Koufontinas zu unterstützen. Trotz ihrer geringen Anzahl sahen sie sich mit jener Art von Polizeibrutalität konfrontiert welche normalerweise Aufständen vorbehalten ist – einschließlich Wasserwerfern. Die Proteste wurden immer größer, da es zunehmend offensichtlicher wurde, dass der Staat bereit war, Koufontinas sterben zu lassen. Die Spannungen, welche durch die COVID-19-Pandemie entstanden waren, und der Opportunismus der Regierenden, diese zu nutzen, um ihre repressive Agenda zu beschleunigen, trugen dazu bei, den Boden für diesen Moment zu bereiten. Doch dieser letzte Widerstand eines bekannten politischen Gefangenen war es, der Tausende von Menschen dazu brachte, ihre Angst zu überwinden und den Lockdown hinter sich zu lassen.
Jeden Tag fanden Demonstrationen statt. Es entwickelte sich eine unregierbare Kraft; und beide Seiten wussten, dass, sollte die Polizei es zu weit treiben, es zu einer Explosion kommen würde. Wenn an einem Tag die Zahl der Demonstrierenden geringer war, nutzte die Polizei die Gelegenheit, um anzugreifen, nur um am nächsten Tag eine weitere Steigerung von Teilnehmenden zu erleben. Die nächtlichen Aktionen weiteten sich parallel zu den täglichen Demonstrationen aus. Dabei kam es zu über fünfhundert Angriffen auf städtische Gebäude, Polizeistationen, rechte Medien und sogar auf die Privatfahrzeuge von Polizist*innen an ihren Wohnorten. Da sich die Polizei auf die zentralen Demonstrationen konzentrierte und nicht wusste, wo die Leute als nächstes zuschlagen würden, häuften sich die Angriffe schließlich so sehr, dass private Sicherheitsdienste angeheuert wurden, um die Häuser prominenter Politiker*innen und Geschäftsleuten zu bewachen.
Anarchist*innen, Autonome, Student*innen, Antifaschist*innen, Anwält*innen, außerparlamentarische und sogar parlamentarische linke Gruppen marschierten Seite an Seite gegen den Versuch der Regierung der Nea Dimokratia, mit dem Tod von Koufontinas das Ende einer Ära zu markieren. Damit wollten sie einen Präzedenzfall schaffen, wonach diejenigen, welche im Kampf gegen autoritäre Institutionen aus der Reihe tanzen, im Gefängnis sterben werden, mitsamt ihrer Träume und den Bewegungen, welche sie representieren. Doch die Verwaltung hatte nicht damit gerechnet, dass sich eine solche Leidenschaft manifestieren würde. Die Medien taten sich schwer, über die klandestinen Aktionen zu berichten, ohne dabei Bezug auf den Hungerstreik zu nehmen, welcher diese mutigen Taten motivierte. Sie bemühten sich zu argumentieren, dass die Demonstrationen COVID-19 verbreiteten, während sie gleichzeitig den Grund verschwiegen, warum die Menschen auf der Straße waren. Und dennoch gingen Tausende hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Ich wurde am 17. November geboren“ auf die Straßen Athens.
In Athen, Thessaloniki, Patras und in anderen Teilen des Landes bewegten sich die Menschen trotz des Risikos von Verhaftung, Geldstrafen und Inhaftierung. Sie brachten zum Ausdruck, dass sie lieber ihre Gesundheit und Sicherheit riskieren würden, als ihre Freiheit zu verlieren. Die massiven Demonstrationen machten deutlich, dass wir nicht um die Angehörigen der derzeitigen Junta trauern, dass wir nicht zulassen, dass die herrschende Klasse oder ihre Medien sie als Opfer darstellen können. Vor allem aber zeigten sie, dass diejenigen, die hinter Gittern leiden und gegen Herrschaft und Ausbeutung kämpfen, nicht vergessen werden, dass „die Leidenschaft für Freiheit stärker ist als ihre Gefängniszellen.“ Trotz der Isolation des Eingesperrt seins sind wir viele, und wir sind bereit, die kommende Welle der revolutionären Spannung im Kampf gegen Staat und Kapitalismus gemeinsam zu reiten.
Infolge des Hungerstreiks versagten Koufontinas‘ Nieren fast vollständig; wodurch dieser gezwungen war, sich einer Dialyse zu unterziehen. Da dies bereits sein fünfter und bisher längster Hungerstreik war, hat sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechtert, sodass er Langzeitfolgen davon tragen wird. Die Tatsache, dass er so lange mit nichts anderem als einem Vitamin-Serum und seiner eigenen Integrität und Motivation überlebt hat, ist eine bemerkenswerte und inspirierende Leistung.
Die Forderungen von Koufontinas bewegten sich vollkommen innerhalb des Rahmens seiner gesetzlichen Rechte. Wir erkennen das sogenannte Justizsystem des Staates nicht an und erwarten daher auch keinesfalls irgendetwas Gerechtes von ihm. Nachdem die Medien und der Staatsapparat angesichts des politischen Drucks im In- und Ausland dazu gezwungen wurden, zu reagieren, war es notwendig, zu behaupten, dass Koufontinas nicht dem korrekten Prozedere gefolgt sei, um seine Forderungen vorzutragen, und darüber hinaus noch bekannt zu geben, dass es absurd sei, dass er sich in einem Hungerstreik befinde. „Wenn wir seinen Forderungen nachgeben, müssen wir das Gleiche für Vergewaltiger tun, welche beginnen sich selbst zu Tode hungern, sobald sie etwas wollen“, sagte Sofia Nicholau, die Trump-liebende griechische Ministerin für das Gefängniswesen, nachdem der Hungerstreik sich zu einem Skandal entwickelte, welchen sie nicht länger ignorieren konnte.
Koufontinas‘ Anwälte gingen nach Nicholaus Erklärung an die Öffentlichkeit und gaben bekannt, dass sie bereits mehrfach den Rechtsweg beschritten hatten und dass sie vor Gericht zurückkehren würden, um die Weigerung des Staates, Koufontinas‘ Rechte zu achten, anzufechten. Seine Anwälte versuchten, gegen die Entscheidung seiner erneuten Verlegung Berufung einzulegen, ebenso wie das Argument anzuführen, dass eine Rückkehr in das Gefängnis von Korydallos in Athen seine Gesundheit schützen und die Situation beruhigen würde. Die Anwälte informierten die Öffentlichkeit während des gesamten Berufungsverfahrens, da man das Gefühl hatte, dass es einen drohenden Bürgerkrieg geben könnte, sollte Koufontinas sterben. In Wahrheit hatte der Staat alle gerichtlichen Möglichkeiten, von denen die Regierung behauptete, dass die Anwälte sie nicht ausprobiert hätten, abgelehnt, wodurch Koufontinas dem Tod immer näher kam. Doch glücklicherweise ist Koufontinas ein Revolutionär und kein Märtyrer. Nachdem die Täuschungen der Gerichte und der Verwaltung in Bezug auf seine angeblichen Rechte aufgedeckt wurden, entschied er sich, seinen Hungerstreik zu beenden.
Die Formen der staatlichen Repression, mit denen politische Bewegungen in Griechenland konfrontiert waren, haben sich im Laufe der Jahre verändert, aber sie sind erst seit der Machtübernahme durch die Regierung der Nea Dimokratia mit denen in Ländern wie den Vereinigten Staaten vergleichbar geworden. Der griechische Staat beeilt sich, seine Taktik durch eine permanente Offensive gegen politische Gegner*innen zu modernisieren, wozu technologische Fortschritte, die sogenannte „Lebensqualität“ der Polizei und die Verschärfung von Ermittlungen und Bestrafung durch die Schaffung neuer Anti-Terror-Gesetze gehören. Die Nea Dimokratia vermittelt, dass sie nichts davon abhalten wird, diesen neuen Status Quo durchzusetzen. Für die revolutionären Bewegungen hier ist dies ein Weckruf: Wir müssen uns anpassen und entsprechend wachsen, damit diese Repression die Möglichkeit des Widerstands nicht zerschlagen kann.
9. März: Die Zusammenstöße in Nea Smirni
Die Demonstration gegen die Polizeigewalt am 9. März schuf landesweit eine neue Situation, wodurch wir in der Lage sind, in den Straßen und auf den Plätzen Athens wieder etwas freier zu atmen. Wir betrachten diese Ereignisse im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben des Widerstands, ausgelöst durch den Hungerstreik von Koufontinas, die ständigen Student*innendemonstrationen und die unerbittliche Polizeirepression, jedoch verdienen sie es, ausführlich beschrieben zu werden.
Die Demonstrationen in Solidarität mit Koufontinas mitten im Zentrum von Athen waren unerbittlich und wuchsen mit jedem Tag, da wir den Eindruck hatten, dass sein Tod immer näher rückte, weiter an . Die Bewegung setzte bereits einen Fuß vor die Tür, um das Wasser zu testen, um herauszufinden, was inmitten des Lockdowns möglich war; schließlich war es an der Zeit, hindurchzuwaten. Die Demonstrant*innen kamen trotz aller Risiken; und auch die breite Gesellschaft hatte genug von diesem fortgesetzten autoritären Experiment. Während sich die Intensivstationen füllten und die Infektionsraten in die Höhe schnellten, wurde immer deutlicher, dass hinter all den Kontrollen, die uns die Polizei aufzwang, keine Logik steckte – trotz aller Versuche seitens der Medien, uns Angst einzujagen, damit wir das alles unhinterfragt akzeptieren. Was am 9. März in Nea Smirni geschah, war zweifellos ein Produkt einer breiteren, im ganzen Land brodelnden Spannung und veranschaulichte was es bedeutet, wenn sich eine Revolte über die typische Demographie der Demonstrant*innen hinaus verallgemeinert.
Am Wochenende vor dem 9. März kontrollierte die Polizei Familien auf einem beliebten Platz, um zu sehen, ob diese die ordnungsgemäße SMS an den staatlichen Telefondienst geschickt hatten, oder die entsprechenden Papiere vorweisen konnten, welche belegen, dass sie das Recht besitzen, sich im Einklang mit den COVID-19-Vorschriften draußen aufzuhalten. Die Beamt*innen schikanierten eine Familie und stellten ein 300-Euro-Ticket aus, einfach weil diese auf dem Platz saß. Anschließend schlugen die Polizist*innen einen Mann, der sich gegen diese Maßnahme aussprach, brutal zusammen; glücklicherweise wurde dies auf Video festgehalten. Letztendlich verhafteten sie ihn und setzten ihre Misshandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit fort. Zuerst behauptete die Polizei, der Mann wäre festgenommen worden, nachdem sie von 30 Personen angegriffen worden war. Die Medien verbreiteten diese Darstellung, welche sich als offensichtliche Fälschung herausstellte. Das ursprüngliche Video ging viral und untergrub das Narrativ, welches von den Medien verbreitet wurde.
Die Polizei nutzt den Vorwand des Lockdowns, sowohl in Athen als auch im ganzen Land, um diese Art von Gewalt permanent auszuüben. In verschiedenen Vierteln wie Kipseli, aber auch in Gegenden wie Exarchia, welche als bullenfeindliche Zonen gelten, schikaniert die Polizei People of Color, Immigrant*innen und Geflüchtete, ohne befürchten zu müssen, dass sich irgendjemand für deren Rechte einsetzt oder dass die Gerichte deren Bitten berücksichtigen. Ohne die Brutalität und den Autoritarismus der Beamt*innen abtun zu wollen, ist es doch sehr naheliegend, dass das Video dieser Schlägerei und die Berichte über polizeilichen Schikanen nur deshalb in die Mainstream-Medien gerieten, weil Nea Smirni ein überwiegend weißes Viertel der griechischen Mittelschicht ist. Was auf der Kamera festgehalten wurde, wurde ausschließlich deshalb als Beweis für polizeiliches Fehlverhalten angesehen, weil die Opfer zu jener Sorte von Menschen gehörten, für deren Schutz die Polizei zuständig ist. Daher hatten die Medien – welche Demonstrationen von Tausenden und Fälle von Brutalität, die von Leuten wie Amnesty International verurteilt wurden, ignoriert hatten – keine andere Wahl, als die Bilder dieses Mannes der geschlagen wurde und von Polizist*innen die ohne Masken in die Gesichter der Familien schreien, da sie gegen den Lockdown verstoßen hatten, zu veröffentlichen.
Linke, Community Organizer und Anarchist*innen riefen zu einer Demonstration gegen die Polizei auf dem Hauptplatz von Nea Smirini auf, dort wo das Video entstand. Diese Demonstration unterschied sich von jenen in Propylea und Syntagma im Stadtzentrum durch die große Beteiligung von Menschen aus der Nachbarschaft. Es wird geschätzt, dass zehntausend Menschen anlässlich dieser Demo auf dem Platz waren, wobei die offiziellen Organisationen nur einen Bruchteil dieser Zahl ausmachten. Anarchist*innen waren zugegen und kampfbereit, doch ebenso Großeltern, Jugendliche und Kinder aus der Nachbarschaft, welche von den Übergriffen angewidert waren.
Die Polizei befand sich in der Defensive, da die Gewalt aus dem viralen Video nicht verleugnet werden konnte und die Augen, welche durch das Betrachten des Videos geöffnet wurden, leicht zu zahllosen anderen Berichten über Brutalität, Repression und Folter schweifen könnten. Viele schlossen sich der Demonstration in der Annahme an, dass die Polizei sich zurückhalten würde, zumal linke und rechte Medien Anzeichen für eine Wiederholung der Ereignisse von 2008 andeuteten, gesetzt den Fall, dass die Polizei keine Zurückhaltung zeigen würde. In einer kalkulierten Zurschaustellung der Toleranz wurden die für Crowd Control eingesetzten MAT- und Delta-Einheiten in der Nähe der Demonstration stationiert, allerdings in einer defensiven Position bei der nahe gelegenen Polizeistation und bei den mobilen Kommandoposten. Wir vermuteten, dass die Polizei keinen Mist bauen würde und die gigantische Demonstration eben genau das bleiben würde: eine bloße Demonstration.
Die Polizei hatte nicht mit einer so großen Anzahl von Ortsansässigen, die normalerweise nicht an Demonstrationen teilnehmen, gerechnet. Sie rechnete auch nicht mit der beispiellosen Zusammenarbeit zwischen Hooligan-Clubs wie AEK, Atromitos, Panionios und Olympiacos, die sich allesamt informell gegen die Polizei verbündeten und sich der Demonstration anschlossen. Die Feindseligkeit gegenüber der Polizei reichte aus, um jene zu versammeln, welche üblicherweise noch nicht mal nebeneinander sitzen können, ohne sich gegenseitig abzustechen. Die Hooligans verliehen der Versammlung in Nea Smirni eine aufregende und spontane Kraft; neben Anarchist*innen und Antifaschist*innen formulierten sie die Ansprüche an die Demonstration neu.
Während die Polizei sich zurückhielt, zogen Anwohner*innen, Anarchist*innen und Hooligans mit dem Demonstrationszug zur örtlichen Polizeistation. Sie stießen dort mit der Bereitschaftspolizei und ihrem Tränengas zusammen und versuchten anschließend, sich in Richtung des Büros des Bürgermeisters zu bewegen, was zur Folge hatte, dass die Polizei begann, die Menge auf Motorrädern anzugreifen. Der Marsch zerfiel in umherschweifende Gruppen von wütenden Anwohner*innen, Hooligans, Anarchist*innen und Antifaschist*innen. Blöcke von Einzelpersonen, die mit Stöcken, Steinen, Fackeln, Molotowcocktails und allem, was sie sonst noch finden konnten, bewaffnet waren, übernahmen die Straßen. Viele kleine Schlachten, von Familien, welche die örtliche Polizeistation mit Steinen bewarfen, bis hin zu Polizist*innen, die Molotowcocktails auf Demonstrant*innen warfen, blieben unbemerkt – doch ein revolutionärer Moment wurde auf Video festgehalten.
Ein Team der Delta-Polizei fuhr, an einer nahe gelegenen Autobahnauffahrt nach Nea Smirni, mit ihren Motorrädern auf die Randalierer*innen los. Hunderte flohen, doch ein Einzelner war zu beobachten, wie er nach vorne preschte – der eine Funke, welcher den sprichwörtlichen Steppenbrand auslösen kann. Dieser mutige Mensch rannte auf die Delta-Polizei zu, packte einen Beamten auf seinem Motorrad und schickte ihn zu Boden. Sofort stürmten Dutzende weiterer couragierter Personen auf die Bullen zu. Die anderen Delta-Polizisten ließen ihren Kollegen zurück und flüchteten. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da ihre Bindung durch einen Gehaltsscheck hergestellt wird, während unsere Verbindungen von der Leidenschaft für die Freiheit inspiriert sind. Der Beamte wurde geschlagen, doch die Angreifer*innen verschonten bewusst sein Leben. Obwohl die Polizei am 9. März versuchte, sich zurückzuhalten, hatte sie nun angesichts der zahllosen Belästigungen und Übergriffe das geerntet, was sie gesät hatte.
Die Menschen zogen sich daraufhin zurück, obwohl die Polizei ihre eigenen Leute im Stich ließ. Die Polizei reagierte in der ganzen Stadt mit einer Welle des Terrors, welche sich auf Nea Smirni bezog. Videoaufnahmen von dieser Ankündigung über ihre Funkgeräte zeigten, wie die Polizei sich versammelte und schrie: “ Wir werden sie alle töten“, obgleich einige Fernsehsender dies in „sie werden ihn töten“ umformulierten, um das Ansehen in der Öffentlichkeit zu wahren.
Die Polizei verhaftete in dieser Nacht wahllos Menschen. Sie schlugen Teenager gnadenlos zusammen, durchsuchten Häuser und Geschäfte und behandelten jede*n in der Nachbarschaft wie eine Zielscheibe. Ein jugendliches Mädchen, welches nicht mit ansehen konnte, wie ihre Freundin von der Delta-Polizei verprügelt wurde, versuchte einzugreifen, woraufhin auch sie verprügelt und ihr mit Vergewaltigung gedroht wurde. Videos, welche die ganze Nacht hindurch aufgenommen wurden, tauchten im Internet auf und belegten die wahre Natur der Polizei, während es in dieser Nacht und in den darauf folgenden Tagen zu vielen Verhaftungen kam. Ein Einsatzkommando der „Anti-Terror-Einheit“ verhaftete einen Angehörigen des Aktivist*innenkollektivs Masovka vor einem sozialen Zentrum; ein Interview (geführt vom Mainstream und russischem staatseigenem Veröffentlichungsorgan Redfish) mit einem Mitglied dieses Kollektivs über seine Verhaftung und Folter könnt ihr hier ansehen.
Die Polizei hat mehrere Personen aus Hooligan-Clubs im Zusammenhang mit der Prügelattacke auf den Delta-Polizisten verhaftet, darunter auch einen aus dem Irak stammenden Hooligan vom Team Olympiacos. Diese Verhaftung erfolgte einzig und allein aufgrund der Aussage eines besorgten Verwandten dieses Verhafteten, wobei inzwischen auch Videobeweise veröffentlicht wurden, welche belegen, dass diese Person zum fraglichen Zeitpunkt in einer ganz anderen Gegend auf der Arbeit war. Doch trotz mehrerer Beweise, wonach sich die Person zum Zeitpunkt des Ereignisses gar nicht in der Nähe befand, bleibt sie im Gefängnis – und wird dies wahrscheinlich auch weiterhin tun, zumindest solange, bis die Polizei eine*n andere*n Schuldige*n gefunden hat.
Der Premierminister betrauerte im Fernsehen den verletzten Delta-Polizisten und plädierte für Einigkeit, während er gleichzeitig die Polizeibrutalität, welche die Demonstration überhaupt erst hervorgerufen hatte, abtat. Die rechte Presse bemühte sich, die Polizei als Opfer darzustellen, mit dem Ziel, das Verhalten der Polizei zu entschuldigen, indem sie andeutete, dass ein am Boden liegender Polizist schlimmer sei als eine Gesellschaft, welche in ständiger Angst leben muss. Nichtsdestotrotz fanden in den Vierteln des ganzen Landes Demonstrationen statt, bei denen sich überall Menschen gegen die Polizei zusammenfanden. Es gelang den Medien nicht, ein Narrativ zu schaffen, welches nur isolierte Geschehnisse abbildete, da sogar in den Vororten Demonstrationen stattfanden, welche ansonsten eher typisch für anarchistische Gruppen im Zentrum von Athen sind.
Die Repression hält bis zum heutigen Tage an. Mit Ausnahme einiger rebellischer Viertel wie Exarchia, migratischer Nachbarschaften, Geflüchtetenlagern und Gefängnissen ist die Polizei jedoch gezwungen, einen Schritt zurückzuweichen – was zweifellos darauf zurückzuführen ist, dass sich die Menschen gegen sie vereinigen.
Hooligans verliehen der Demonstration am 9. März beachtliche Kräfte. Es waren nicht nur Anarchist*innen auf den Videos, die an jenem Tag zu sehen waren, obwohl diese eine beträchtliche Kraft auf den Straßen darstellten. Ebenso handelte es sich hierbei nicht um ein isoliertes Ereignis; Hooligans wirkten bereits an verschiedenen revolutionären Momenten in Griechenland aktiv mit, insbesondere am Aufstand vom Dezember 2008. Persönlich haben wir einige Kritikpunkte an der Kultur, welche mit dem Hooliganismus einher geht. Wir stehen der Psychologie des Mikronationalismus, welche ihr zugrunde liegt, und der damit verbundenen Misogynie und dem Sexismus sehr kritisch gegenüber. Besonders in Griechenland ist die Beziehung zwischen Mafia, Wirtschaftseliten und Hooligan-Clubs offensichtlich. Dennoch sollte man Hooligans nicht von vornherein abqualifizieren. Dieses ursprünglich aus der Armut heraus entstandene Milieu, welches die Polizei von Anfang an verabscheute, verdient unsere Beachtung.
In Griechenland ist die Leichtathletik schon von klein auf für alle zugänglich – viel mehr noch als etwa Punkrock oder Hip-Hop, durch welche hier viele Menschen eine Einführung in Politik erhalten. Anders als in den USA, wo die Jugendkultur entpolitisiert wurde, spielen Profisport und Hooligan-Clubs , sowohl innerhalb der griechischen Gesellschaft als auch bei der Politisierung vieler Menschen, eine große Rolle – dies im Guten wie im Schlechten. Man kann in Griechenland weder durch Städte noch auf dem Land spazieren gehen, ohne Hooligan-Graffiti zu sehen – darunter antifaschistische, anarchistische oder auch faschistische und nationalistische Sprüche in Verbindung mit Club-Tags. Viele junge Menschen finden im Hooligan sein wie auch in Sportvereinen von Kindesbeinen an Identität und Gemeinschaft und entdecken in der Folge über diese Erfahrungen die Politik und die bewusste Verachtung gegenüber bestimmten Institutionen.
AEK beispielsweise, ein Mainstream-Sportverein auf Augenhöhe mit der US-amerikanischen NBA oder NFL, hat eine breitere Präsenz von antifaschistischen Fans, während Mannschaften wie Olympiacos eher faschistische Fans anziehen. Natürlich gibt es bei beiden Vereinen sowohl Faschist*innen als auch Antifaschist*innen, dennoch bleibt die Feststellung, dass Hooliganismus für viele Menschen, ungeachtet aller Fehler, ein Zugang zur Politik darstellt. Wenn man an die Schulschießereien in den USA denkt, bei welchen entfremdete Jugendliche mitwirken, die weder eine Gemeinschaft noch ein Ventil für ihre Frustration finden, könnte man annehmen, dass Hooliganismus oder Fanclubs ein weitaus gesünderes Ventil für existenzielle Ängste darstellen. Im Laufe der Geschichte wurde der Sport stets dazu genutzt, das Publikum in der Betrachter*innen Rolle zu halten und den Status Quo zu bewahren; auch hierzu hat der Hooliganismus – im Guten wie im Schlechten – zuweilen Widerspruch eingelegt. Wie auch immer, am 9. März in Nea Smirni teilten diese Clubs die Freude an der Solidarität und der Rache mit den Anarchist*innen und anderen Anwohner*innen.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Potenzial als auch mit den Mängeln des Hooliganismus als einer Präsenz an der Seite der anarchistischen Bewegung in Griechenland, werden wir an folgendes Zitat von Alfredo Bonanno erinnert:
„Es ist niemals möglich, befreiende Gewalt mit den Bedingungen des Kampfes in Einklang zu bringen. Der Prozess der Befreiung ist von Natur aus exzessiv. In die Richtung des übermäßigen oder in die des Mangels. Wo haben wir jemals einen Aufstand der Bevölkerung, welcher genau ins Schwarze traff und die Feinde, welche es zu töten galt, klar unterschied, gesehen? Es handelt sich hierbei vielmehr um einen Hieb der Krallen eines Tigers, welcher reißt und dabei nicht unterscheidet.“
– Against Amnesty*
Student:innen
In der Hoffnung, die fast fünfzig Jahre alte Tradition des Hochschulasyls zu unterdrücken, treibt die Regierung die Polizei kontinuierlich auf die Campusgelände. Dies geschieht parallel zu den Bestrebungen, die Bildung zu privatisieren, die Infrastruktur der Bewegung zu zerstören und das Land nach einem neoliberalen Paradigma zu modernisieren. Dennoch gehen Student*innen und andere junge Menschen weiterhin auf die Straße und bringen damit klar zum Ausdruck, dass die Polizei auf dem Campus oder in den Schulen niemals willkommen sein wird. Bis jetzt bleiben die Schulen geschlossen, sodass es ein hypothetischer Kampf bleibt, aber schon bald werden sich diese Herausforderungen konkretisieren.
Katz-und-Maus-Besetzungen finden an Universitäten im ganzen Land statt. Student*innen besetzen ein Gebäude, verlieren es bei einer Polizeirazzia und besetzen dann am nächsten Tag ein anderes. Das Hauptgebäude der Universität von Thessaloniki ist hierbei zu einer Art autonomen Zone geworden, da sie mehrfach überfallen und anschließend immer wieder erneut besetzt wurde. Sie bleibt widerstandsfähig, ganz im Geiste jener studentischen Kämpfe, aus welchen sie hervorging, und demonstriert damit, wie Gemeinschaften auch ohne Polizei sicherer leben können. Sie fungiert als gemeinschaftliches Ressourcenzentrum, welches kostenlose Kurse, Erfahrungsaustausch und verschiedene andere gegenseitige Hilfsmaßnahmen anbietet.
Die Student*innendemonstrationen im ganzen Land gehen trotz COVID-19 unvermindert weiter, und hierbei ist abzusehen, dass sich diese noch verstärken werden, sobald der Lockdown aufgelockert wird und die neuen Campus-Richtlinien des Staates auf die Probe gestellt werden, nachdem die Schulen wieder öffnen.
Der Lockdown
Es ist entwürdigend mitzuerleben, wie der Staat trotz rekordverdächtiger Infektionsraten verzweifelt versucht, das Land vor der kommenden Tourist*innensaison wieder zu öffnen. Das monatelange Leben im Fegefeuer, wobei unsere „Freiheiten“ nach der kapitalistischen Definition des Staates vom Überleben gemessen wurden, neigt sich dem Ende zu, damit sie das Land wieder öffnen können wie einen Zoo.
Das Scheitern ihrer Politik ist offenkundig, sei es angesichts der Widersprüche von Regierungsaufträgen oder der Tragödie, welche sich in den griechischen Krankenhäusern abspielt. Der Staat ist in die Defensive gedrängt worden. Dennoch fährt die Regierung, damit fort, die Bevölkerung zu verblenden, indem sie behauptet, das Scheitern ihrer Maßnahmen sei die Schuld jener Bürger*innen, welche diese nicht richtig befolgt hätten.
Wenn man sich ansieht, wie sich die Behörden darauf vorbereiten, die Wiedereröffnung von Einzelhandelsgeschäften und Tourist*innenattraktionen zu erzwingen, während die Infektionsraten sich auf dem höchsten Stand seit beginn der Pandemie befinden, muss man sich fragen, ob sie versuchen, es alles auf die Spitze zu treiben, um dort dann ein Plateau zu installieren, welches für die Tourist*innen einladender ist. Dies ist natürlich nur Spekulation, allerdings ergibt es mehr Sinn als alles, was so im Parlament geäußert wird.
Während der Staat darauf drängt für Tourist*innen wieder zu öffnen, demonstriert medizinisches Personal vor den Krankenhäusern und dem Gesundheitsministerium und fordert dabei PSA, den Ausbau der Intensivstationen und die Erfüllung anderer grundlegender Bedürfnisse im Hinblick auf diese medizinische Krise. Mitglieder der MAT-Bereitschaftspolizei – welche, wie der Rest der griechischen Strafverfolgungsbehörden, von erhöhten Gehältern und Budgets auf Kosten der Krankenhäuser und ihres Personals profitiert haben – griffen kürzlich eine Demonstration von medizinischem Personal brutal an.
Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten gibt es hier kaum Bemühungen, lebensnotwendige Arbeiter*innen als „Held*innen“ zu bejubeln. In den USA scheinen die Bemühungen, Lieferarbeiter*innen, Lebensmittelarbeiter*innen und medizinisches Personal zu feiern, Teil einer kapitalistischen Strategie zu sein,welche ein Kriegsnarrativ kreiert, welches bestimmten Arbeiter*innen den „Held*innen“-Status zubilligt, während gleichzeitig ihre Gehälter niedrig gehalten werden können. In Griechenland gibt es Anstrengungen, Polizei und Militär während COVID-19 zu glorifizieren, zudem wurden ihre Budgets erhöht – ungeachtet dessen, dass sie keinerlei greifbare Rolle im Hinblick auf die Bekämpfung der Pandemie spielen. In der Zwischenzeit können sich Lieferant*innen, Angestellte in Lebensmittelgeschäften, medizinisches Personal und andere wichtige Arbeitskräfte noch glücklich schätzen, wenn sie in dieser Zeit überhaupt einen Job haben. Sie sehen sich mit Schikanen, Gewalt und dem Zorn des Staates konfrontiert, sollten sie etwas anderes als das Privileg des Arbeitsplatzes verlangen.
Kein Lockdown, welcher sich einerseits von Krankenhäusern trennt, um andererseits Polizei- und Militärbudgets zu erweitern, zielt wirklich auf den Schutz der Gesundheit der Menschen ab. Ein solcher Lockdown kann nur ein Experiment des Autoritarismus sein. Nach der allgemeinen Revolte im März hat sich die Polizei passiv von der Durchsetzung des Lockdowns zurückgezogen. Ein*e jede*r konnte sehen, wie die Regierung das Virus dazu nutzte, neue politische Maßnahmen zu ergreifen und das Alltagsleben umzustrukturieren. Während viele Leute die katastrophalen Auswirkungen erkennen, welche eine weitere Zuspitzung der COVID-19-Infektionen auf die Krankenhäuser und die Schwachen haben wird, sind die meisten Menschen schlichtweg abgestumpft.
Natürlich läuft die Polizei in Exarchia weiterhin Amok und macht Jagd auf People of Color, um Bußgelder und Inhaftierungen zu verhängen, aber den meisten Menschen ist das schlichtweg egal geworden und sie handeln dementsprechend. Welche andere Reaktion wäre auch denkbar, wenn deutsche Tourist*innen für den Urlaub auf Kreta landen, während denjenigen, welche dort leben, verboten wird, sich auch nur mehr als zwei Kilometer von ihren Häusern zu entfernen?
Um es einfach zu formulieren: Die Regierung hat versagt. Sie macht diejenigen, welche sie beherrscht, für das eigene Versagen verantwortlich, wobei ihre gesamte Existenz einzig und allein durch die Annahme gestützt wird, sie würde uns vor uns selbst und vor noch nie dagewesenen Ereignissen schützen können. Doch sie hat uns nicht geschützt – sie hat darin versagt, uns zu schützen. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Staat ein einziges Ärgernis, wenn nicht gar eine regelrechte Plage ist – der nur dafür existiert, einen Status quo zu erhalten, welcher einzig und allein einer privilegierten Klasse zugute kommt, und das auf Kosten von allen anderen.
Repression
Seit die Nea Dimokratia an die Macht kam, hat sich die Repression gegen anarchistische Militante durch den griechischen Staat verdoppelt. Doch trotz aller Ängste bleibt unsere Bewegung stark und widerstandsfähig, ausgestattet mit einer gefestigten und breiten Solidarität. Geldstrafen, Verhaftungen, Inhaftierungen, langjährige Prozesse und konstruierte Anti-Terror-Verfahren sind unbarmherzig, doch die Bewegung macht weiter.
Die Situation in den griechischen Gefängnissen verschlechtert sich stetig, was sowohl auf COVID-19 als auch auf die Ministerin des Gefängniswesens Sofia Nikolaou zurückzuführen ist, diese verwendet zusätzliche Mittel dazu, die Gehälter der Mitarbeiter*innen aufzustocken, anstatt die Sicherheit der Gefangenen zu gewährleisten. Obwohl zahlreiche Gerichtsverfahren am Laufen sind, möchten wir einige besonders hervorheben.
Errol, ein in Frankreich geborener Anarchist, wurde am 6. Dezember gefangen genommen, in einer Haftanstalt für Migrant*innen festgehalten und dann ohne Gerichtsverfahren nach Frankreich abgeschoben, was im Widerspruch zu seinen gesetzlichen Rechten innerhalb der Europäischen Union steht. Erstaunlicherweise konnte er sich erneut nach Griechenland durchschlagen. Errols Fall stellt ein beispielloses Verhalten seitens des griechischen Staates dar. Unabhängig davon wurde Errol nach einer antirassistischen Kundgebung in Athen erneut verhaftet und anschließend abermals in die als Petrou Ralli bekannten Haftanstalt für Migrant*innen verbracht. Er wurde am 29. März aus der Haft entlassen und erhielt 30 Tage Zeit, das Land zu verlassen oder sich weiteren Gerichtsverfahren zu stellen. Sein Mut angesichts der Bemühungen des griechischen Staates, ihn loszuwerden, ist inspirierend.
Inzwischen wurde auch das Verfahren gegen den anarchistischen Genossen Vangelis Stathopoulos, beschuldigt wegen der Beteiligung an der Organisation „Revolutionäre Selbstverteidigung“, wieder aufgenommen. Auch im Falle der Guerillaorganisation „Revolutionärer Kampf“ wurde das Berufungsgericht wiedereröffnet.
Der Prozess gegen die anarchistische Genossin Dimitra Valavani wurde vertagt. Die Polizei entnahm ihr gewaltsam ihre DNA-Probe mittels intensiver Einschüchterung und dem, was in diesem Statement als Folter bezeichnet wurde.
Der vor uns liegende Weg
Es bleibt zu hoffen, dass die Menschen im Zuge der Lockerung des Lockdowns und dem Wechsel der Jahreszeiten nicht vergesslich oder selbstgefällig werden. Wir hoffen, dass man sich an jene Frau erinnern wird, welche einen Strafzettel dafür bekam, dass sie am 17. November eine Blume an einer Gedenkstätte für die am Polytechnikum in Exarchia getöteten Student*innen niedergelegt hatte, genauso wie an die Gedenkblumen für Alexis Grigoropolous, die ein Polizeibeamter am 6. Dezember zerstörte, oder an all die Vergewaltigungs- und Morddrohungen, welche die Polizei routinemäßig an uns richtet. Wir hoffen, dass die Menschen sich daran erinnern werden, wie die Polizei während des Lockdowns die Augen vor dem offenen Heroinhandel und den Bordellen, in denen Frauen während der Pandemie zur Arbeit gezwungen wurden, verschlossen hat, während sie jede Äußerung von Dissens attackierte. Dies sind nur einige der ungeheuerlichsten Beispiele, doch darf die weit verbreitete körperliche Folter und Brutalität, denen zahllose Student*innen, Anarchist*innen und Anwohner*innen, die sich in den letzten Monaten dazu entschlossen haben, der Polizei entgegenzutreten, ausgesetzt waren, auf keinen Fall vergessen werden.
Viele bereiten sich auf diesen Sommer vor, als ob er unser letztes Mahl wäre. Seit diesen letzten Wochen wissen wir, dass in all der Zeit etwas gewachsen ist – in unseren Herzen und in unserem Verstand, in unserem Mut und in unserer Hingabe. Wir sind mit vielen Menschen über unsere Bewegung hinaus gewachsen, und das in einer Gesellschaft, in welcher COVID-19 die wahre Natur des Staates und des Kapitalismus gewaltsam aufgedeckt hat. An einem Ort, an dem der Verwaltungsapparat der Regierung noch verwirrender und kafkaesker ist als an den meisten anderen Orten auf dieser Welt, kann nicht einmal der Nationalismus die Menschen darüber hinwegtäuschen, dass das gegenwärtige Regime diese Pandemie gezielt missbraucht hat.
Zum Abschluss dieses Monatsberichts wurde in Athen ein neues besetztes Haus geöffnet, derweil gewinnt die autonome Zone im Hauptgebäude der Universität von Thessaloniki durch die Besetzung der Theater- und Wissenschaftsabteilung weiter an Boden. Gleichzeitig gehen die Angriffe auf Geflüchtete und ihre Communitys weiter, die Zahl der COVID-19-Toten steigt, und Polizei und Faschist*innen arbeiteten offen zusammen, um am 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Griechenlands von der Türkei ein besetztes Sozialzentrum in Thessaloniki anzugreifen.
Diese letzten Wochen haben uns, trotz all des Schmerzes, welcher das Erleben dieser Gräueltaten, die uns zum Widerstand drängen, unweigerlich mit sich bringt, inspiriert. Solidarität mit all jenen, welche weltweit gegen den Staat und den Kapitalismus kämpfen.
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Falls Ihr daran interessiert seid, über die Geschehnisse in Griechenland auf dem Laufenden zu bleiben, besucht unsere Kanäle in den sozialen Medien unter @radiofragmata auf Twitter und radiofragmata.org. Kürzlich wurden wir zum bereits dritten Mal von Facebook gebannt, hoffen allerdings, bald wieder einen Weg dorthin zurück zu finden. Darüber hinaus empfehlen wir athens.indymedia.org. Der Twitter-Account @exiledarizona, Abolition media worldwide und Enough is Enough 14 berichten ebenfalls regelmäßig in englischer Sprache über Geschehnisse in Griechenland. Act for Free wurde kürzlich vom niederländischen Staat die Server gestohlen und ist daher bedauerlicherweise nicht mehr zu erreichen [Act for Free hat eine neue Webseite: https://actforfree.noblogs.org/, Übersetzer:in]. Das Archiv der Seite ist hier einsehbar.
Viele sehen sich mit beträchtlichen Anklagen, finanzieller Not infolge von Bußgeldern inmitten von Arbeitslosigkeit und schweren körperlichen Schäden ausgelöst durch die in diesem Bericht beschriebenen Ereignisse konfrontiert. Der Kampf gegen Repression durch Solidarität ist ein fortlaufender Prozess; daher laden wir euch ein, den untenstehenden Fonds als Ausdruck der Solidarität zu verbreiten und auch dort hin zu spenden.
Laufender Solidaritätsfonds für verfolgte und inhaftierte Revolutionär*innen in Griechenland.
*(Anmerkung Bratislav Metulski: Meines Wissens nach bisher nicht auf deutsch erschienen)