quelle: enough is enough
Eine Kritik vietnamesischer Anarchist*innen am sogenannten „Sozialismus“ in Vietnam.
Ursprünglich veröffentlicht von Libcom. Geschrieben von Mèo Mun Kollektiv. Übersetzt von Die Platform.
Vietnam 2021, Optimismus scheint in der Luft zu liegen. Die konsequente Verfolgung einer ZeroCovid-Strategie zur Pandemiebekämpfung hat der Regierung sowohl national als auch international ein hohes Maß an Respekt und Zustimmung beschert. Wo viele Nachbarländer wirtschaftliche Einbußen durch die Pandemie erleiden mussten, konnte die vietnamesische Wirtschaft sogar Gewinne verzeichnen. Doch unter all den positiven Nachrichten scheint etwas verquer zu sein. Da ist dieses nagende Gefühl, das niemand so recht zuzuordnen weiß. Fast, als würde ein Gespenst in Vietnam umgehen, das Gespenst des Kommunismus – die wahrhaftige Ausgabe davon, ganz ohne Glocken und Pfeifen.
Wie Emma Goldman in ihren Werken bemerkte, gab es keinen Kommunismus in der UdSSR. Das selbe kann über das Vietnam der Gegenwart gesagt werden. Die Partei an der Macht, die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) – hat den Pfad zum Kommunismus längst verlassen.
Bevor der gegenwärtige Parteichef zu seiner dritten Amtszeit (2020-2025) antrat, formulierte er einen ambitionierten Plan, durch welchen Vietnam bis 2045 ein „Industrieland“ werden solle, das es auch mit konkurrierenden Nationen wie Japan, Südkorea und Singapur aufnehmen könne. Für uns Radikale ist dies ein Verrat an der Arbeiter:innenklasse, an indigenen Communities und marginalisierten Gruppen, die so viel geopfert haben für Vietnams Revolution. Doch wie euch Marxist:innen-Leninist:innen mit strahlenden Augen und steinharter Überzeugung versichern werden, ist dies alles Teil des Plans™ und 2045 wird ganz sicher das Jahr sein, in dem Vietnam endlich zu einem klassenlosen, staatenlosen und geldlosen Land wird.
Eine nähere Betrachtung der vietnamesischen Gesellschaft hingegen enthüllt, dass dieser Plan lediglich eine Illusion ist und die Verprechungen bestenfalls eine Rechtfertigung für die herrschende kapitalistische Klasse darstellen, das Leben noch ein wenig länger aus dem Land zu saugen. Der Unterschied zwischen dem, was die Parteieliten predigen und was sie umsetzen ist ein Unterschied zwischen Tag und Nacht.
Während Vietnams Wirtschaft wächst und wächst, so wächst auch der Unterschied zwischen Armen und Reichen. Keine Regulierungsmaßnahmen und kein Sozialstaat kann die Akkumulation von Kapital aufhalten oder den Strom von Reichtum aus den Händen Vieler in die Hände einiger Weniger. Diese Akkumulation wird nirgendwo deutlicher als in der Praxis des Landbesitzes. Dieses System ermöglicht, dass die Kontrolle des Landes den Händen von Landarbeiter:innen mit minimaler Entschädigung entrissen werden und im Gegenzug Kapitalist:innen übergeben werden kann, die ein vielfaches an Profit daraus erpressen können. Im ganzen Land sind luxuriöse Wohnkomplexe aus dem Boden geschossen, aber nur wenige der Enteigneten können es sich leisten, dort einzuziehen. Der Milliardär Phạm Nhật Vượng, dessen Familie ungefähr so viel besitzt wie 800.000 durchschnittliche Vietnames:innen, hätte sein Imperium nicht aufbauen können, wenn ihm nicht Land aus Volksbesitz auf diese Art und Weise zugespielt worden wären.
Vietnams ohnehin fragiles Ökosystem und indigene Communities zahlen ebenfalls einen hohen Preis für das schnelle Wirtschaftswachstum. Der Plan für den Elektrizitätssektor berücksichtigt zwar in begrenztem Maße erneuerbare Energien, schließt jedoch auch den Bau neuer Kohlekraftwerke mit ein – trotz dringlicher Warnungen über deren CO2-Bilanz und PM2.5-Smog, der ohnehin schon viele Großstädte einschließt und die Gesundheit von Millionen Menschen bedroht. Um 2015 herum entstanden außerdem viele hydroelektrischen Kraftwerke in den bergigen Regionen des Landes, um den Strombedarf von Städten und Fabriken zu füllen. Diese Kraftwerke haben nicht nur das Flussnetzwerk gestört und tieferliegende Agrarregionen wichtiger Sedimente beraubt, sondern auch verheerenden Schaden an indigenen Communities angerichtet. Solarenergie-Kraftwerke in Ninh Thuận haben den indigenen Chăm ihr Farmland genommen. Das Mekongdelta, Vietnams Hauptanbaugebiet für Reis, ist durch die vielen Dämme stromaufwärts in Thailand und China existenziell bedroht. Und zur selben Zeit, zu der verabschiedet wird, dass landesweit eine Milliarde Bäume gepflanzt werden sollen, wurden Kapitalist:innen zahlreiche Genehmigungen erteilt, damit sie tausende Hektar Farm- und Waldland in Resorts und Golfplätze verwandeln können.
Hinter all dem steht ein starkes nationalistisches Gefühl – ein effektives Werkzeug, jegliche Kritik gegen am Staat abzutun. Dies bedeutet, dass nach Belieben die Kämpfe anderer Leute untergraben werden können, um einem abstrakten „größeren Ganzen“ nicht im Weg zu stehen. Nationalismus ist inzwischen der Faktor, der den Wert vietnamesischer Bürger:innen bestimmt.
Nationalismus war es, der die Việt Minh in den 1940er Jahren an die Macht katapultierte. Es war Nationalismus, der Millionen jugner Vietnames*innen motivierte, die Interessen ihres Landes über ihre eigenen zu stellen und gegen ausländischen Imperialismus zu kämpfen. Schon seit der frühen Geschichte der Partei gab es starke Bestrebungen, überall ein starkes Gefühl des Nationalismus zu etablieren. Nationalismus ist im Lehrplan vietnamesischer Kinder, in unseren Liedern, Gedichten, Kunst und überall in den Medien. Einer der größten Erfolge der Partei ist die absolute Überhöhung von nationaler Identität und Loyalität zur Partei. Die moderne kapitalistische Klasse wie VinGroup oder der BKAV hat bei den Erzeugnissen der staatlichen Propagandamaschinerie gut aufgepasst und bezieht nationalistische Elemente in ihr Marketing mit ein.
Ironischerweise sind es insbesondere die Nationalist:innen, die sich als Erben der „kommunistischen“ Revolution sehen, dabei sind sie es, die allen radikalen Ideen wie Tierbefreiung, sexueller und geschlechtlicher Befreiung, indigener Autonomie, Entkriminalisierung von Sexarbeit und internationaler Solidarität am ablehnendsten gegenüberstehen. Die nationalistischen Überzeugungen haben sich vorhersehbarerweise in eine konterrevolutionäre, reaktionäre Kraft entwickelt, die sich in rote Gewänder hüllt.
Opfer des vietnamesischen Nationalismus sind unter anderem:
- Queere Personen, die weiterhin einen hohen Grad an Diskriminierung in Vietnam erfahren. Fortschritte im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität kommt vorrangig aus liberaleren Strömungen wie dem Pride Movement, welches leider kaum mehr ist als ein Marketingwerkzeug für ausländische und lokale Konzerne. Wirklich tiefgreifende Veränderungen wie die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Familien oder die rechtliche Anerkennung der medizinischen Bedürfnisse von trans Personen wurden immer wieder verschoben um „dringlichere Angelegenheiten“ zu priorisieren.
- Sexarbeiter:innen, die stigmatisiert und von der vietnamesischen Polizei verfolgt werden. In den Augen der vietnamesischen, patriarchalen Gesellschaft ist Sexarbeit keine Arbeit, sondern lediglich ein unmoralisches Leiden, die es auszumerzen gilt. Daraus folgend, wird Sexarbeit für die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten verantwortlich gemacht und Sexarbeiter:innen, insbesondere queere Sexarbeiter:innen werden an den Rand der Gesellschaft verdrängt.
- Indigene Communities, die seit dem Feudalismus unter der Siedlungspolitik leiden, finden auch unter der aktuellen, „anti-imperialistischen“ Regierung keinen Rückhalt. Schlimmer noch, die Unterdrückung hat sogar noch zugenommen, seit der Staat neue und effektivere Methoden entwickelt hat, jeglichen Widerstand gegen ihn zu neutralisieren.
Viele Verteidiger:innen des vietnamesischen „Sozialismus“ im Ausland haben diese offensichtlichen Red Flags ignoriert oder im Namen der Entwicklung ihres „sozialistischen“ Lieblingslandes als gerechtfertigt betrachtet. Dies demonstriert Apathie und Ignoranz gegenüber den vietnamesischen Kämpfen für eine gerechte Gesellschaft und gegen den Kapitalismus. All diese genannten Punkte werden akzeptiert wegen eines roten Anstriches und wegen vorgeblich „anti-imperialistischer“ Ambitionen gegen die USA. Für uns ist deutlich: Kommunismus stand nie auf der Agenda.
Letztendlich ist zu existieren allein und für sich genommen schon ein Sieg. Darüber entsteht eine Aufgabe, eine Rolle – die Rolle, die Stimmen vietnamesischer Radikaler abzubilden. Wir richten uns an die Zukunft der Arbeiter:innenklasse, die Jugend, die den Kapitalismus und den Staat sowohl am Leben erhalten und von ihnen unterdrückt werden. Wir hoffen, dass sie eines Tages diese knechtenden Ketten sprengen können.”