EINIGE ANMERKUNGEN ÜBER DEN KAMPF GEGEN DAS GEFÄNGNIS

Die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Wesens übersteigt jede Vorstellung. Man kann einen Menschen unter fast alle möglichen Bedingungen stellen, selbst unter Bedingungen, in denen es nur den Tod als roten Faden der Geschichte gibt, und
es wird ihm noch immer gelingen, sich anzupassen, sein Verhalten mit der Stimmgabel des feindlichen Milieus in Einklang zu bringen. Diese Fähigkeit ist einerseits aussergewöhnlich und macht aus dem Menschen seine Eigenart als Mensch. Andererseits ist sie unendlich tragisch, denn die Macht begegnet darin nicht nur unerbittlichen Gegnern, sondern auch der Resignation, die im Grunde genommen
der Lebenshauch, sei er auch faulig, der Macht selbst ist.

Einige werden sagen, es handelt sich hierbei um den Überlebensinstinkt, andere werden auf die unerschöpfliche Kreativität verweisen, die der Mensch im Verlaufe der Geschichte darin bewiesen hat, seinen Nächsten in die Knie zu zwingen und in Ketten zu legen. Wieder andere werden aus der Standfestigkeit, die die Revolte der Menschen gegen die unerträglichen Bedingungen auszeichnet, Mut schöpfen.
Wie dem auch sein, im Gefängnis findet man das alles auf konzentrierte Weise. Aber ist es möglich, das Gefängnis zu kritisieren, ohne unmittelbar von dieser Gesellschaft zu sprechen, die auf der Autorität und der Macht basiert?

Nichts auf dieser Welt kann für sich betrachtet werden. Unser ganzes Leben ist mit demjenigen von anderen verbunden (auch, ja sogar vor allem auf einer konfliktuellen Ebene), genauso wie alle Strukturen der Gesellschaft, die im Namen ihres Wohls errichtet wurden – wir sprechen wohlgemerkt vom Wohl „der Gesellschaft“, was wir von jenemder Individuen unterscheiden, die Teil von ihr ausmachen –, unter einander verbunden sind. Die physische Struktur eines Spitals, einer Schule, eines Sanatoriums oder einer Fabrik gleicht jener des Gefängnisses. Die Mechanismen, die sich in ihr abspielen, und die ihre Form ausmachen, befinden sich im Einklang und in permanentem Dialog untereinander. Das Gefängnis als eine getrennte Frage zu betrachten, seine Problematik von der Gesamtheit der sozialen Frage loszulösen,
würde darauf hinaus laufen, daran vorbeizugehen, was sich uns stellt. Oder schlimmer noch, das Spiel der Macht zu spielen, die ihre Strukturen nie als eine Gesamtheit präsentiert, sondern als Elemente, die voneinander getrennt (und somit zu eventuellen Verbesserungen fähig) sind. Wenn diese Elemente zwar durchaus ihr Fundament bilden, so ist die Macht der Zement, der sie in die Mauer der Autorität verwandelt. Die Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit sind nicht diese getrennten Elemente, die sogar relativ einfach zu bekämpfen wären, sondern diese Mauer, die aus diesen Elementen und dem scheinbar unerschütterlichen Zement der Macht gebildet ist.

 

Das Gefängnis und die Gesellschaft als Lager unter offenem Himmel

Obwohl der Kampf gegen das Gefängnis nicht eine Frage von Statistiken, von Nummern und Zahlen ist – was gerade der ihm zugrundeliegenden Logik entsprechen würde, alle Menschen auf Inhaftierungsnummern und auf richterliche Dossiers zu reduzieren –, kommt man nicht umhin, die Feststellung zu machen, dass sich niemals zuvor so viele Leute in einer der verschiedenartigen Einschliessungsstrukturen des Staates eingesperrt gefunden haben. Die Konzentrations- und Internierungslogik ist nach den Nazilagern nicht begraben worden. Ganz im Gegenteil wurde sie ausgefeilt und auf die Gesamtheit der
Gesellschaft ausgeweitet. Die steigende Anzahl Gefangener – im Sinne von Personen, denen die Freiheit, die ihnen der Staat zugestand, weggenommen
wurde – geht mit einer Diversifizierung der Einschliessung einher: Gefängnisse, geschlossene Zentren für illegale Migranten, Erziehungsanstalten, geschlossene Zentren für Minderjährige, psychiatrische Einrichtungen und seit kurzem das eigene Haus (verwandelt in ein Käfig durch die Einführung der elektronischen Fussfessel).

Aber ausschliesslich diese Tendenz zu betrachten und sie von der Gesamtheit der Richtung loszulösen, die von der Gesellschaft eingeschlagen wird, würde uns bloss dazu führen, die falschen Fragen zu stellen. Es handelt sich nämlich um eine doppelte Bewegung. Einerseits der Ausbau der Einschliessungsstrukturen. Andererseits der viel ausgereiftere Ausbau der sozialen Kontrolle, vor allem durch die
neuen Technologien. Die Zahl der Gefängnisse steigt weiter an, genauso wie die Zahl der Personen, die darin eingeschlossen sind. Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ist es, die sich Stück für Stück in ein grosses Lager unter offenem Himmel verwandelt. Man könnte sogar sagen, dass der Ausbau der Einschliessungsfähigkeit im Vergleich zur viel „effizienteren“ präventiven Repression gewissermassen ein Archaismus
darstellt.

Das Gefängnis beschränkt sich nicht nur auf die vier Mauern, und nicht einmal im weiteren Sinne auf die technologische Kontrolle oder auf die Psychiatrisierung des Menschen. Die Einschliessung – verstanden als Umzäunung, Restriktion oder Abschaffung der Möglichkeiten, die ein Mensch in Freiheit erfassen könnte – operiert in jeder sozialen Unterdrückung. Es wäre fast schon grotesk, mittels Kraftausdrücken
und autoritären Mechanismen von ihr zu sprechen, während man doch nur ein Auge darauf zu werfen braucht, wie die Einschliessung in der Familie oder in einem religiösen Kontext Gestalt annimmt. In diesem Sinne kann das Gefängnis als nichts anderes betrachtet werden, als die Konsequenz aller autoritären Beziehungen, die aus dem, was man „unsere Welt“ nennt, die Schweinerei macht, die sie ist. Und umgekehrt. Denn die Herrschaft in ihrer Gesamtheit siedelt sich nach dem Abbild des Gefängnisses im Körper und Geist der Menschen an. Das Gefängnis ist die offenkundige, sichtbare und greifbare Verkörperung jeder autoritären Logik; ebenso wie die Autorität nie etwas anderes aufbauen kann, als Gefängnisse, auch wenn diese viele Formen und viele Farben annehmen können.

Lasst uns also gleich auf den Punkt kommen: innerhalb des gegenwärtigen sozialen Kontextes ist es unmöglich, das Gefängnis abzuschaffen. Selbst wenn die Mauern in die Luft gesprengt und die Türen der Zellen aufgebrochen würden, solange das Autoritätsprinzip nicht den Todesstoss erhalten hat, würde es unter einer anderen Form wiederauftauchen. Schlimmer noch: man kann sich darauf gefasst machen,
dass, solange es Staaten geben wird (egal welche Form sie annehmen), eine hypothetische Reduzierung der physischen Einschliessung nur durch eine wirkliche Reduzierung der Freiheit möglich ist, das heisst, indem man sich darum kümmert, dass wir alle zu Wärtern und Gefangenen im grossen Gefängnis der Gesellschaft geworden sind. Hierin liegt die traurige Tragödie beispielsweise der Kämpfe gegen
die Isolationstrakte… Sie können nicht anders, als auf die Zerstörung aller Gefängnisse (das heisst, auf eine soziale Revolution, die das Autoritätsprinzip
zugunsten der Experimentierungen mit der Freiheit vertreibt), oder aber auf die Verallgemeinerung in allen Gefängnissen und in allen Bereichen von gewissen Massnahmen hinauslaufen, die den Isolationsregimes eigen sind. Die entscheidende Zerstörung der Gefängnisse wird eine Konsequenz, besser gesagt, eine Lebensnotwendigkeit der sozialen Revolution sein, die sich jeglicher Autorität
entledigen will.

Muss man daraus nun schliessen, dass heute, in einer Zeit, da der revolutionäre
und freiheitliche Elan gewiss nicht so stark umgeht wie die Herrschaft und ihre falschen autoritären Kritiker, ein Kampf gegen das Gefängnis keinen Sinn macht? Muss man daraus schliessen, dass er von Anfang an zum Scheitern und zur Niederlage verurteilt wäre? Wenn wir dazu kämen, diese Frage mit Ja zu beantworten, dann würden wir nie mehr einen Kampf angehen. Denn dasselbe könnte man gewissermassen über jeden beliebigen Konflikt, jeden beliebigen Kampf, jeden
beliebigen Versuch sagen, sich aufzulehnen und der Revolte freien Lauf zu lassen – nicht für eine einfache Verbesserung, nicht für einige zusätzliche Krümel, sondern, um die Autorität zu zerstören. Aber bei der Subversion und somit der sozialen Revolution geht es nicht um Teilsiege oder um Resultate, die mit den Massstäben der Herrschaft
messbar sind. Die Zerstörung der Gefängnisse beginnt nirgends anders – genauso wie die radikale Umwälzung aller bestehenden sozialen Verhältnisse –, als im jetztigen Konflikt, in der Entscheidung, die Resignation in tausend Stücke zu brechen und an der Revolte Geschmack zu finden. Jede Weigerung, dem Gefängnisregime und seinen Dienern zu gehorchen, jeder Akt der Revolte, jeder Moment, in dem das Verlangen nach Freiheit Überhand nimmt über die Tragödie der Anpassung an die
Umstände, untergräbt die so sehr gehassten Mauern.

 

Delinquenz und Rebellion

Das romantische Bild des Banditen, der mit allen Gesetzen bricht, der letzte heroische Kampf des Gesetzlosen mit den Verteidigern des Staates, die volkstümlichen Geschichten der zahlreichen Robin Hoods… sind sehr schöne Geschichten. Sie geben Hoffnung und schliesslich geht es nicht so sehr darum, zu wissen, ob sie „wahr“ sind oder nicht; sind Vorstellung und Traum „wahr“? Dennoch inspirieren, ermutigen und leiten sie zahlreiche Schritte, zahlreiche Abenteuer, zahlreiche
Parcours von Menschen.

Man sollte aber diese bezaubernde Kraft der Vorstellung, die wahre Essenz der Revolte, und das delinquente Milieu, so wie es heute existiert, nicht miteinander verwechseln. Es ist ziemlich einfach: einer der Stützpfeiler dieser Welt ist das Geld. Und es gibt legale und illegale Wege, es sich zu verschaffen. So gibt es beispielsweise die legale Plünderung und den legalen Diebstahl, der von den Bossen, den Reichen, den Mächtigen, und zugunsten von ihnen ausgeübt wird. Für Gewöhnlich nennt man dies „Lohnarbeit“ (den Körper, die Energie und den Geist des Arbeiters plündern), „Abbau von natürlichen Ressourcen“ (die Erde plündern),
„Handel“ (mit Geld Geld machen, die Bedürfnisse der Leute in Geld umwandeln, von ihren Verlangen und Träumen schmarotzen, indem sie in käufliche Waren umgewandelt werden). Die illegalen Wege, wohl wissend, das dieser Begriff denjenigen gehört, die von ihm profitieren, sind also die Plünderung (Waren nehmen, ohne zu bezahlen), der Drogenhandel (die Drogenabhängigkeit in Geld umwandeln), der Diebstahl und der Überfall (mit Gewalt das Eigentum eines anderen in
Beschlag nehmen) und so weiter. Es ist also deutlich, dass die Tatsache, dass jemand die Grenzen der Legalität überschreitet, nicht bedeutet, dass er dabei ist, die Grundlagen dieser Welt umzuwälzen. Aber man kann das Kind nicht mit dem Bad ausschütten.

Gehen wir die Frage aus einem anderen Blickwinkel an. Unser Kampf gegen diese Welt der Autorität und des Geldes kann im wahren Sinn des Wortes nur delinquent sein: vom rechten Weg abkommen und mit den herrschenden Normen brechen. Es ist nicht unvorstellbar, einer Welt, die in eine Minderheit von Reichen und eine überwiegende Mehrheit von Armen unterteilt ist, ein Ende zu setzen, ohne deswegen dafür zu sorgen, dass das heilige Eigentum von seinem Podest fällt. Der unmögliche und unausstehliche Moralismus des Privateigentums hat mit irgendeinem „Respekt vor dem Wohl des anderen“ nichts zu tun, sondern hat vor allem dafür gesorgt, dass die Armen weniger moralische Bedenken haben, sich gegenseitig zu bestehlen oder sich den Reichen zu verkaufen, anstatt das Geld bei jenen holen zu gehen, die sich oben auf der sozialen Leiter befinden. Es ist nicht möglich, die delinquente Spannung
bei den Armen durch die Moral, die Religion, die Ideologie und die Repression auszuradieren. Anstatt zu versuchen, diese Spannung auszuradieren, hat sich der Staat für einen anderen Weg entschieden: die Delinquenz nicht mehr zu beseitigen, sondern sie zu verwalten, sie einzubinden und sich ihr zu bedienen. Das beste Beispiel dafür ist eine der einfachsten Arten, welche die Gesellschaft offeriert, um rasch ziemlich viel Geld anzusammeln (oder zumindest die Illusion davon zu umarmen): der Drogenhandel. Dadurch, dass er sie illegal macht, lässt der
Staat den Preis der Drogen auf dem Markt aufblähen, und gleichzeitig
profitiert er von den Konsequenzen, die ihm zugute kommen: Schwarzhandel,
Stimulierung der Umwandlung der Delinquenz in Unternehmertum, Dämpfung der sozialen Spannungen durch eine breite soziale Betäubung, und so weiter. Durch den Justizapparat – und somit die Gefängnisstrafe – verwaltet und leitet der Staat ein Teil dieser Branche der Delinquenz. Mittels der Drohung mit Verfolgungen und Gefängnisstrafen sichert er sich zusätzlich ein breites Netz von Denunzianten
und Spitzeln. Und vergessen wir auch nicht die zahlreichen historischen Beispiele, in denen der Staat jene rekrutiert, die nicht zögern, die Gesetze zu übertreten, um die Revolutionäre und die aufständischen Massen zu massakrieren. Kurz gefasst: das delinquente Milieu oder die Delinquenz kann sicher nicht als eine Art Gegenpol der staatlichen oder sonstigen Macht betrachtet werden.

Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Innerhalb der Delinquenz gibt es auch solche, die die Regeln des Spiels nicht akzeptieren und mit ihnen brechen wie sie mit den staatlichen Gesetzen brechen. Solche, die das Geld dort suchen gehen werden, wo es sich im Überfluss befindet, und die nicht wie Soldaten den Befehlen irgendeines Mafia- oder Clanchefs gehorchen. Es liegt uns fern, hier irgendeine Kategorie von
„sozialen Rebellen“ konstruieren zu wollen, aber dies beseitigt nicht die
Anwesenheit des rebellischen Aspektes. Genau dieser Aspekt ist es, den viele Personen gerne bereitwillig verbergen würden. Der Staat, ebenso wie seine linken oder rechten Gegenspieler, will brave und folgsame Arme. Wenn der Arme mit seiner Resignation bricht und sich auf die Suche nach Mitteln macht, um die notwendige Enteignung anzugehen, dann liegt da der Anfang eines möglichen Parcours von Rebellion und Subversion, ein Parcours, der von keiner politischen Tendenz
anerkannt wird, eben weil seine letzte Konsequenz logischerweise die Zurückweisung der Politik als eine Verwaltungsweise der Individuen ist. Diese historische Spannung lebendig zu halten und sie zu vertiefen, ist von fundamentalem Interesse für jegliches subversive Projekt. Fern von einer Verherrlichung des Verbrechens an sich, geht es hier um die a-legale Aneignung der Mittel, um das Privateigentum zu bekämpfen.

 

Die Rechte der Macht

Wie in den meisten sozialen Konflikten beziehen sich die Protagonisten des Kampfes in und gegen das Gefängnis oft auf ein Dokument, das einige Jahrhunderte alt ist: die Menschenrechte. Man könnte in der Tat sagen, dass alle Gefängnisregime im Widerspruch mit den Menschenrechten stehen, aber dies gilt im Grunde genommen für alles auf dieser Welt. Aber es ist kein Zufall, dass sowohl die Mächtigen wie ihre
Kritiker so oft von den Menschenrechten sprechen. Im Namen eben dieser Rechte ist es, dass unmögliche Allianzen geschlossen werden. Dass man sich um den Tisch setzt, um zu verhandeln, um einen Kompromiss zu finden. Der Diskurs, der sich auf die Rechte bezieht, führt nur zu einem Resultat: er nähert uns dem Staat an, denn er ist derjenige, der alle Rechte vergibt und schützt. Und wenn eines der zugestandenen
Rechte verletzt wird, so ist es der Staat, oder eine seiner Branchen, der über die Schwere dieser Verletzung, über etwaige Lösungen oder über den Beschluss, die Existenz dieser Verletzung zu negieren, entscheiden wird. Die Rechte sind immer die Rechte des Staates.

Nehmen wir beispielsweise die Rechte der Gefangenen. Diese Recht wurden vom Staat oder den Gefängnisdirektion formuliert und vergeben. Sie können also in jedem beliebigen Moment zurückgenommen oder ausser Kraft gesetzt werden. Der Bunker oder die Platzierung unter Isolation ist im Grunde genommen die „legale“ Suspendierung jeglichen Rechts. Alles, was die Gefangenen in Sachen Spielraum erhalten haben, haben sie durch den Kampf erhalten. Jeder Spielraum, der nicht das Ziel eines Kampfes gewesen ist, kann, ebenso wie im Rest der Gesellschaft, morgen wieder abgeschafft werden, falls es der Staat als wünschenswert erachtet. All die
schönen Worte über die Rechte der Gefangenen schliessen die eventuellen kommenden Konflikte in einer Zwangsjacke ein, eine Zwangsjacke, die dafür sorgt, dass die Ergebnisse immer für das Gefängnis selbst profitabel sind. Dies zeigt sich deutlich in den zahlreichen Versuchen der Direktionen, die Gefangenen formell in die Verwaltung der Einschliessung miteinzubeziehen, indem man sie an ihrer eigenen Unterdrückung teilhaben lässt. Innerhalb des gegebenen Rahmens können die Gefangenen also „ihrer Stimme“ Gehör verschaffen. Und anstatt zu kämpfen, werden
Umgestaltungen ausgehandelt. Damit wollen wir nicht sagen, dass diese Umgestaltungen nicht einen wirklichen Unterschied bewirken können, aber die Frage liegt immer darin, wie sie erreicht wurden. Nehmen wir ein konkretes Beispiel, um unseren Vorschlag besser zu veranschaulichen. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen einerseits Gefangenen, die sich weigern, nach dem Hofgang in ihre Zellen zurückzukehren, um mehr Stunden des Spaziergangs zu fodern; und andererseits Gefangenen, die versuchen, über den Weg der Gerichte, ihre „Rechte“ auf mehr Spaziergang gelten zu machen, oder die mit der Direktion über mögliche
Verlängerungen verhandeln werden. Im ersten Fall wird die Direktion entweder die Revolte niederschlagen, oder die Verlängerung akzeptieren müssen… und falls sie dieses Zugeständnis wieder zurücknehmen würde, so wüsste sie, dass sie sich auf erneute Weigerungen, in die Zellen zurückzukehren, gefasst machen kann. Im zweiten Fall wird es für die Direktion ausreichen, einige gesetzliche Einwände zu nennen oder den klagenden Gefangenen eine Verlegung in ein anderes Gefängnis anzubieten. Selbst im Falle, dass es ihnen gelingen würde, eine Verbesserung zu erhalten,
würde die Direktion nichts daran hindern, sie im gewünschten Moment wieder zurückzunehmen, denn die einzige Bedrohung wäre dann eine erneute Verhandlung und gewiss nicht ein Gefängnis in Aufruhr.

Die Frage liegt also nicht so sehr in einer Opposition zwischen Reformismus (die progressive Reform des Gefängnissystems) und Revolution (die unmittelbare Zerstörung des Gefängnisses); sondern vielmehr in der Entwicklung eines Kampfparcours, im Aufbau einer widerspenstigen Spannung und in der Möglichkeit, in der geteilten Revolte Komplizenschaften zu schmieden. Alles andere wird immer ein Zeichen von Schwäche sein, während man nichts anderes als inszenierte Resultate erhält, die nur auf dem Papier von Wert sind.

 

Die Wärter und die individuelle Verantwortung

Auch wenn es keinen Zweifel daran gibt, dass derjenige, der eine Uniform trägt, einen Teil seiner Menschlichkeit beseite legt, hat es keinen Nutzen, die Wärter als unmenschliche Monster darzustellen, die zu jeder beliebigen Form von Folter und Missbrauch fähig sind. Dies würde zu sehr einer Umkehrung des Bildes gleichen, dass die Gesellschaft von „den Gefangenen“ aufstellt, um subversiv zu sein. Es stimmt gewiss, dass die Mehrheit, ja sogar die Gesamtheit der Wärter, nach Jahren der Abstumpfung und der Gewöhnung daran, Autorität und Gewalt auszuüben,
nicht mehr fähig ist, sich anders zu verhalten. Aber es stimmt auch, dass es, wie wir damals gesagt haben, „menschliche“ Wärter gibt, die sich von Zeit zu Zeit um das Schicksal eines Häftlings sorgen oder die Augen dort verschliessen, wo die allzu wörtliche Anwendung des Regimes den Tod bedeuten würde. Kann man von diesen sagen, dass sie „unmenschlich“ sind? Zudem, wo liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem „unerbittlichen Wärter“, der von seiner Macht berauscht ist, und dem Direktor – ohne Uniform und im Allgemeinen nicht persönlich in die Folter- und
Gewaltakte verwickelt? Aus diesem Grund sprechen wir, wenn wir in diesem Text von „Wärtern“ sprechen, von all denjenigen, die das alltägliche Funktionieren des Gefängnisses formell möglich machen: Wärter, Psychiater, Gefängnissozialarbeiter, Direktoren, Stellvertreter, Ärzte,…

Vielleicht sollten wir anders vorgehen. Anstatt die Wärter nach ihrem Grad von „Menschlichkeit“ einzuklassieren – während wir damit verschweigen, dass sich das System ebenso sehr auf die Brutalität wie auf die Barmherzigkeit und das Wohlwollen, oder, besser noch, auf deren unerträgliche Kombination stützt –, würden wir besser daran tun, von der Tatsache auszugehen, dass die Wärter durchaus „menschliche Wesen“ sind, mit allen Widersprüchen und aller Komplexität, die das impliziert.
Selbst im Folterer fährt das menschliche Wesen fort, zu existieren. Es geht also nicht mehr darum, zu wissen, „wer sich auf akzeptierbare Weise verhält und wer die Grenzen überschreitet und infolgedessen bestraft werden wird“, was uns zwangsläufig zu einer reformistischen Vorstellung des Kampfes führen würde (selbst wenn dieser bewaffnet ist), sondern vielmehr darum, auf welche Weisen man die Wärter bezwingen kann, die – wie die Mauern, die Schranken, die Justiz und die herrschende Moral – Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit sind. Ein Angriff gegen die
Wärter wird dann nicht mehr „nur“ eine Frage von Repressalie, sondern eine Frage danach, wie ein Hindernis für unser Verlangen nach Freiheit beseitigt werden kann. Wenn es Tote gibt, werden wir uns also nicht hinter der Bemerkung verstecken, „auf Uniformen gezielt zu haben“, sondern in vollem Bewusstsein auf uns nehmen, auf einen Menschen gezielt zu haben, der, aufgrund seiner individuellen Verantwortung und seiner Entscheidung, die Funktion der Verteidigung der bestehenden Ordnung
auszuüben, ein Hindernis für unsere Freiheit ist.

Selbstverständlich pfeifft die Macht füstlich auf diese Art von ethischen Überlegungen und von Suche nach Kohärzen in dem, was wir wollen, und darin, wie wir kämpfen. Auf Seiten der Mächtigen wird nie mit Grausamkeiten gespart. Aber wir sind nicht wie sie. Wir wollen nicht wie sie werden. Wir sind keine Rächer, die Schaffotte errichten, um die Schuldigen zu bestrafen. Wir kämpfen schlicht mit allen Mitteln, die wir für angebracht halten, damit es nie wieder weder Schaffotte noch Henker geben wird. Wir brauchen daher nicht das Bild von Monstern auf die Wärter zurückzuwerfen, das sie uns anhängen – während sie sich damit in die lange Tradition von denjenigen einschreiben, die ganze Bevölkerungen als Untermenschen, Ungeziefer, Nationsverräter, Treulose, Niederwertige hinstellen, um sie auslöschen zu können. Wir betrachten sie als das, was sie sind: Menschen, die sich Tag für Tag entscheiden,
den Schlüssel in den Schlössern der Zellen umzudrehen. Weil wir nicht denken, dass es möglich ist, die Henker zu „bekehren“ oder zu „überzeugen“, bedeutet das nicht, dass wir ihnen ihre Menschlichkeit abstreiten. Es ist diese Spannung, diese ethische Spannung nach der Freiheit, die nicht eine andere Version der „Justiz“ mit ihren Gesetzen und Bestrafungen sein will, die uns so verschieden macht und in der wir
unsere Kraft und unseren Mut schöpfen, um die Autorität weiterhin mit den Waffen der Antiautorität zu bekämpfen.

Dies ermöglicht uns im Übrigen, ohne Missverständnisse zum Angriff überzugehen. Denn selbst wenn das Gefängnis eine Maschinerie ist, der es gelingt, die Verantwortung der Folter, die die Einschliessung in Wirklichkeit ist, ins Endlose zu verteilen, und somit das verschwommene Gesicht eines tentakligen und anonymen Monsters annimmt, so tragen gewisse Personen paradoxerweise spezifische Verantwortungen. Sie zu identifizieren ist eine Lebensnotwendigkeit für jedes Projekt des Kampfes gegen das Gefängnis. Verstehen, wer, wo und wie die Fäden zieht. Wer entscheidet über die Platzierung unter Isolation von widerspenstigen Gefangenen. Wer ermöglicht es den Wärtern, sich zu decken. Wer ist verantwortlich für die Entscheidung der Internierungen, etc. Diese individuellen Verantwortungen zu erkennen ist eine unumgängliche Aufgabe der Feinde des Gefängnisses.

 

Das Gefängnis und seine Mentalität

Innerhalb der Mauern sind die Wärter nicht die einzigen, die sich in Sachen Herrschaftstechnik bilden. Die Beziehungen unter Häftlingen sind genauso geprägt von Autorität wie jene der Leute draussen. Einerseits formalisiert das Gefängnisregime diese hierarchischen Verhältnisse, indem es Privilegien gewährt, indem es einen Teil der Gefangenen direkt in die Verwaltung des Gefängnisses miteinbezieht und gewisse störende Elemente vom Rest der Gefängnisbevölkerung isoliert. Andererseits werden die Gefangenen von allem im Gefängnis ermutigt,
sich die Herrschaftstechniken anzueignen und sich darin zu bilden. Die Verhältnisse unter Gefangenen sind weniger durch ein Gefühl von „Brüderlichkeit“ aufgrund der geteilten Bedingung bestimmt, als vielmehr durch die herrschende Moral dieser Gesellschaft: Konkurrenz, Erpressung, Betrug, Verrat, Spaltung, Ausschluss, Handel, Resignation, Akzeptierung, Betäubung, Hierarchie. Die Momente, in denen die
Gefangenen in Aufstand treten, sind daher fast immer Unterbrüche, ja sogar Überwindungen dieser Verhältnisse. Die Insurrektion gegen das Gefängnis beginnt dort, wo der Verrat dem Vertrauen, die Konkurrenz der Solidarität, die Resignation dem Kampf Platz macht. Das Gefängnis unternimmt alles, was in seiner Macht steht, um aufzuzeigen, dass sich diese Unterbrüche oder diese Überwindungen für die aufständischen Gefangenen immer zum Schlechten wenden. Es sorgt dafür durch
den Bunker, die Isolierung, die Verprügelungen, die Aufhebung der „Rechte“, die Beseitigung einer Perspektive auf bedingte Freilassung, aber auch durch die Mitteilung, die es seinen Geiseln konstant zukommen lässt: wenn du dich ruhig verhältst, wird alles schnell gehen.

Der Akt des Sich-Auflehnens erweist sich somit, drinnen wie draussen, als eine Lebensnotwendigkeit, und nicht als schlichte Formalität, um etwas zu erreichen. Wir werden nie aufhören, allem voran die intim menschliche und lebendige Seite der Revolte zu betonen, die Wichtigkeit, die sie für das revoltierende Individuum an sich hat.

 

(Dieser Text ist der Broschüre 'Stein für Stein' entnommen die hier heruntergeladen werden kann!)

-->