Quelle: bibliothek fermento
Ungehaltener Beitrag anlässlich der Veranstaltung „Was wollen die Anarchisten“ vom 9.2.19
Liebe Gefährten,
Angesichts der heutigen Diskussion zur Frage „Was wollen die Anarchisten?“ will auch ich mich hinsetzen und einige Überlegungen niederschreiben, die euch wahrscheinlich mit einiger Verspätung erreichen werden, da hier alles erst durch die Zensur muss.
Nicht im Gefängnis sein. Das ist irgendwie das erste, was mir gerade in den Sinn kommt. Aber es macht auch deutlich, wie die Panzertüre vor mir, dass es nicht ausreicht etwas zu wollen. Ohne Bedingungen, die es ermöglichen, den Gegenstand des Willens in der Realität zu erfassen und in der Handlung zu überwinden, bleibt es der blosse Ausdruck eines Wunsches, Ähnlich dem jener, die noch an den Weihnachtsmann glauben, oder jener etwas erwachseneren, die an eine objektive Kraft Glauben, die in der Welt wirkt und uns eines Tages befreien wird. Ob man sie nun Gott, Vernunft, Dialektik oder Fortschritt nenne. Nichts dergleichen.
Für die Anarchisten sind diese abstrakten Prinzipien alle derselbe Betrug. Und vielleicht haben wir noch zu wenig darüber nachgedacht, dass archê, bei den alten Griechen, noch bevor es Synonym für Herrschaft wurde, für das erste Prinzip stand, das allem zugrunde liegt. Es ist dieses ursprüngliche religiöse Element, woraus die Rechtfertigung der Autorität und schliesslich des Monsters des Staates erwächst.
Also, in Ermangelung eines Weltgeistes, wie Hegel es nannte, oder dialektischen Materialismus, wie Marx in direkter Abwandlung, müssen wir uns selber befreien. Und dazu, offensichtlich, müssen wir es wollen. Aber auch der Wille kann uns ein Gefängnis sein. Ich zum Beispiel habe manchmal, draussen, angesichts der Schandtaten, die um uns geschehen, Momente gehabt, in denen ich mich gefangener fühlte als jetzt hier drinnen. Hier sieht sich der Wille zwangsläufig veranlasst, seinen Perimeter zu reduzieren. Draussen aber stösst er gegen Mauern, die weniger deutlich, und eben deshalb perfider sind. Diese letzteren sind es an erster Stelle, die wir erkennen und Stein für Stein abtragen müssen, nur dann können eines Tages die konkreten Mauern der Gefängnisse fallen.
Ich will deshalb hier nicht von der Schönheit der Anarchie sprechen, von der Reinheit der anarchistischen Prinzipien. Das sind eitle Dinge, für die wir auf ein ganzes Jahrhundert der anarchistischen Propaganda verweisen können. Ich will meine Aufmerksamkeit weniger auf des Problem des „Was“ denn auf jenes des „Wollen“ legen.
Wir können nur wollen, was wir in irgendeiner Weise verstehen, also uns als Gegenstand vorstellen können, und sei es auch die sonderbarste aller Utopien. Das heisst unser Wollen ist durchaus nicht so frei, wie sich eine volutaristische Tradition auch vieler Anarchisten lange darauf stützte. Es ist abhängig von unserem Vorstellungshaushalt, von unserer Kultur im weiten Sinne. Wobei unter letzterer nicht nur die literarische Überlieferung und allgemeine Bildung zu vestehen ist, sondern auch was und wie wir essen, uns kleiden, miteinander umgehen, kommunizieren, wertschätzen, kurz, alle Aspekte des alltäglichen Lebens. In einer Gesellschaft, die dabei ist, alle diese Aspekte in einen geschlossenen Kreis hineinzuziehen, der von der Technologie verwaltet wird, bietet sich der Macht die Möglichkeit, die Kultur immer mehr von der Realität zu lösen. Das betrifft nicht nur jene überwiegende Masse der Ausgeschlossenen, die passiv verwaltet werden, sondern auch jene selbst, die Verwaltungspositionen besetzen. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass die Technologie sich den Staat, die alten politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen allmählich einverleibt.
Einige haben den Begriff der Derealisierung verwendet, um einem noch unsicheren Versuch, diesen allumfassenden Wandel zu vestehen, der unser aller Anstrengung bedarf. Wir müssen die Technologie nicht bloss als die Gesamtheit ihrer Apparate, sondern vor allem auch als einen Schleier von substanzlosen Formen und Inhalten vestehen, der sich immer mehr über die Realtität legt, dahin strebend, sie als Referenz zu ersetzen. Ist dieser Kreis einmal dicht geschlossen, werden die kutlurellen Inhalte, unser Vorstellungshaushalt, dem Willen gar keine befreienden Handlungsmündungen mehr eröffnen, die doch zumindest eines Kontakts mit der realen Substanz des Machtübergriffs und der Ausbeutung bedürfen. Der Wille, sich zu befreien, verwandelt sich nur noch in symbolische und Ersatzhandlungen, die im eigenen kulturellen Universum von gesonderten Denkmuster eingeschlossen bleiben. Es grassieren aufgeladene Schlagworte und Symbole, Geschwätz und Rituale. Unnötig zu bemerken, dass auch die Anarchisten von dieser Entwicklung nicht unbeeinflusst sind. Und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir zu sehr glaubten, die Wahrheit, oder den Rosenkranz der Prinzipien, in der Tasche zu haben, ohne es nötig zu haben, uns einer weiteren Vertiefung der Probleme anzunehmen, die letztlich stets Probleme in Hinsicht auf das Handeln in der Realität sind.
Die Anarchisten haben eine Idee von Freiheit, die sich weder in Abstufungen noch in Sektoren unterteilen, und auch nicht in Worten einschliessen lässt. Da sie nicht bloss die bestehende Herrschaft zu einer Anpassung anregen oder eine neue, veränderte Herrschaft hervorbringen wollen, müssen sie, von einer globalen Sicht ausgehen. Unser Denken ist gezwungen, die Welt in getrennten Begriffen und Situationen zu fassen, als Behelfsmittel, um dem Verstand Orientierung zu geben. Die Welt als Ganzes aber, und somit auch die Idee von Freiheit, ist eins und ununterteilbar, und hat nur in unserem Herzen Platz. Anders wäre die Aussage Bakunins nicht verständlich, dass wir nicht wirklich frei sein können, solange noch ein Mensch auf der Welt in Ketten liegt. Heute mehr denn je, denke ich, müssen wir lernen, nicht nur auf die Worte zu achten, die oft trügerisch sind, und mehr auf das Herz, auf das, was zwischen den Worten mitschwingt. Die Suche nach Affinität, wenn nur die Worte kommunizieren bleibt letztlich unergiebig. Wer den Kopf eines Esels hat, sagte einmal jemand, kann nicht plötzlich das Herz eines Löwens in sich entdecken.
Die Rebellion, scheint mir, hat heute nur noch den Ausweg, direkt auf den obengenannten Kreis abzuzielen. Und dazu gehört auch, uns die kulturellen Mittel anzugeignen, die uns die Macht auf allen Ebenen entziehen will. Ein Element davon ist sicher die Kenntnis über den Gegenstand des Willens, die aber auch ein Hindernis werden und den Kontakt mit der Realität verlieren kann, wenn sie abschliessenden Anspruch hat. Ein anderes Element, noch viel wichtiger, sind gewissen Eigenschaften, die nicht sehr modern scheinen mögen, aber Grundlage sind für die Überwindung vom Willen zur Handlung: der Mut, an erster Stelle, die Entschlossenheit, aber auch, und in keinerlei Gegensatz dazu, die Liebe, in ihrem allgemeinen Fundament, die Offenheit für Andere, die Sensibilität, die Kreativität.
Das Buch, das bis heute im Zentrum der kulturellen Entwicklung zu stehen schien, ist sicher ein Gegenstand, der aus der Mode gekommen ist, und zu Recht, in seiner Anmassung die Welt zwischen zwei Deckeln einzufassen. Und sicher wir können der Ansicht sein, es dahin zu schicken, wo der Pfeffer wächst. Als provisorische Reflexionsgelegenheit könnte uns jedoch ein quasi unerschöpflicher Schatz an heute selten gewordenen Anregungen entgehen, die obengenannten Elemente zu vertiefen und zu verwurzeln.
Um abzuschliesssen, denke ich, die Anarchisten wollen die revolutionäre Umgestaltung der etatistischen Gewaltordnung, welche durch ihre ganze Geschichte hindurch, um einer herrschenden Gruppe Privilegien zu verschaffen, auf Kriegen, Ausbeutung und Massenarmut besiert. Eine Umgestaltung in Richtung eines staatenlosen, dezentralisierten, selbstorganisierten Zusammenschlusses, von Individuen, Gruppen, Gemeinden, etc. Nicht alle, aber die meisten sind der Ansicht, dass die technologischen Produktionsbedingungen von heute mit der Perspektive einer freiheitlichen Selbstverwaltung unvereinbar ist. Die Anarchisten wollen sich spezifisch als revolutionäre Minderheit organisieren, um in erster Person zu kämpfen, sowie die Selbstorganisation der Menschen in ihren Kämpfen fördern. Letztere alleine kann Grundlage einer revolutionären Umgestaltung sein, die nicht eine neue politische Gruppe an die Macht bringen soll. Nicht alle, aber die meisten sind der Ansicht, dass eine solche Umgestaltung nicht Resultat eines Grossen Abends oder einer bloss eduktionistischen Arbeit sein kann, sondern einer langen, manchmal auch schmerzhaften Reihe von Zwischenkämpfen und Aufstandsversuchen der Unterdrückten. Deshalb wollen sie den Wandel der sozialen Realitäten und Konflikte, in ihrem globalen Sinne, ausreichend verstehen, um vorschlagend und vorantreibend, und nicht wie ein Fremdelement, sich dort einbringen, wo sie ein Entwicklungspotential in diese Richtung sehen.
Natürlich mag ich falsch liegen, aber es ist das was ich in der Erfahrung der anarchistischen Bewegung auszumachen glaube, und auch persönlich denke. Ich denke ausserdem, dass allumfassende Umgestaltungen der Macht im Gange sind, die unseren Untergang bedeuten könnten, ohne dass wir es merken, wenn wir uns nicht einer Erneuerung öffnen. Und das Neue kommt stets durch die Handlung heran.
Ich hoffe, der heutige Abend bot Anlass zu einer lebhaften Diskussion, in der niemand zu widersprechen und konfrontieren scheut, aber nicht weil angetrieben vom Willen, Recht zu haben, sondern von dem, besser zu verstehen, um besser zu handeln. Schliesslich, und das seien wir uns stets bewusst, sind es nichts geringeres als unsere Leben, die auf dem Spiel stehen.
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
F. Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“
8. Februar, 2019, Gefängnis Zürich
Quelle: bibliothek fermento
01. März 2019, Gefängnis Zürich
Liebe Gefährten, liebe Freunde
Einen Monat ist es nun her, seit ich am 29. Januar, auf dem Weg zur Arbeit, nachdem ich gerade mit dem Fahrrad von der Langstrasse in die Josefstrasse einbog,von einem Ziviauto zum Anhalten gedrängt und von zwei weiteren Zivilpolizsten auf Fahrrädern hinten überfallen wurde. Darunter eine Frau, von der ich mich erinnere, dass sie mir schon seit kurz nach meinem Haus gefolgt sein muss. Danach ging es , in Begleitung von etwa 15 ungeladenen Gästen, zu einem letzten Besuch in meiner Wohnung, meinem Auto und der anarchistischen Bibliothek, wo jeweils elektronische Datenträger, Unterlagen und anderes beschlagnahmt wurden.
Nun bin ich also in jener anderen Dimension gelandet, bestehend aus engen Räumen, grobklotzigen Möbeln, langen Korridoren, Gittern, immer wieder Gittern und Stahltüren, deren Auf und zuschliessen den Rhytmus des Alltags diktiert. Nur wenige hundert Meter entfernt von den vertrauten Orten und Personen, aber getrennt von der Gewalt einer ganzen Gesellschaft, die das Regime von Mauern und Gesetzen dem Walten von Freiheit und Gewissen vorzieht. Draussen mögen wir träumen, experimentieren, rebelllieren aus verletzter Würde im Angesicht der Schändlichkeiten auf welch diese Welt sich stützt, allmählich verweben sich unsere Erfahrungen und Erkenntnisse zu einer Gesamtsicht und erschliessen wir im Denken und im Handeln die Bedingungen der Herrschaft, um uns davon zu befreien, und den Katalog der vorgefertigten Modelle zurückweisend, auch der anarchistischen, entwickelt sich in uns, wie von selbst, ein revolutionäres Projekt heraus, worin sich Theorie und Handlung unablässig herausfordern, verschlingen, wir können uns wachsen spüren und glauben fast, wir könnten die Welt umarmen, und doch, zack!, kann sich alles in einem Moment auf wenige Quadratmeter reduzieren. Jeder Anarchist weiss das und hat es immer irgendwo im Hinterkopf, mehr oder weniger präsent. Eben die Existenz dieser Möglichkeit, sinnblildlichst für den wesentlichen Kern dieser Gesellschaftsordnung,ist erst recht Grund um unser Leben nicht schon draussen zu einem Gefängnis zu machen: der Konventionen und Vorurteile, der fortschreitenden Kompromisse und flüchtigen Befriedigungen, die uns über den nächsten Tag bringen, des gewzungenen Tuns und der Angst, die uns klein glauben will.
Dieses revolutionäre Projekt, das jeder Anarchist in sich entwickelt, entwickelt sich weiter, auch wenn jemand im Gefängnis sitzt. Dazu beizutragen und unsere Initiative nicht dem Diktat der Repression zu opfern, darin besteht eine revolutionäre, und nicht lediglich anti-repressive, selbstverständlich menschliche Solidarität, die auch ich für jeden empfinde, der in den Kerkern des Staates schmort. Wir könnten verleitet sein, zu sehr nur auf den Bullenknüppel und auf den Knast zu schauen. Aber im Grunde, Repression, das ist auch, das Unterbreiten von symbolischen Ritualen und Inhalten, die uns in einem kulturellen Ghetto einschliessen und der Realität des sozialen Kampfes entziehen, die Offerierung von partizipativen Lösungen für kleine Zugeständnisse, das allseitige Bedrängen mit Anreizen und Informationen, die immer weniger reale Bedeutung haben, die Entleerung der Sprache, womit wir unsere Ideen uns selber und anderen verständlich machen.Dies alles trägt vielleicht viel massgeblicher dazu bei, eine Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse zu reprimieren. Zumindest, denke ich, müssten auch diese Probleme in einem Zusammenhang gesehen werden.
Was meine persönliche Situation betrifft, so bin ich den Umständen entsprechend wohlauf. Ich bin traurig, den geliebten Personen und den gehegten Träumen so plötzlich entrissen zu sein. Aber es gelingt mir gut, wenn schon nicht ausserhalb, so innerhalb von mir das Weite zu suchen. Ich nutze die Zeit und Musse zum Lesen und Schreiben, Lernen und Studieren.Es gibt einige Leute hier, mit denen ich mich gut unterhalten kann. Ich freue mich über Zusendungen von Nachrichten und Analysen über das Weltgeschehen, von anarchistischen Publikationen (Briefumschlag tauglich), sowie natürlich von Briefen von Gefährten und befreundeten Bekannten. Ich verstehe Deutsch, Französisch, Italienisch. Englisch und etwas Spanisch und Türkisch. Selbstverständlich beteiligt sich auch die Staatsanwaltschaft beim lesen. Zuletzt möchte ich mich noch bei all jenen herzlich bedanken, die mich mit den möglichen Mitteln unterstützen.
Ich wünsche euch Mut und Kraft da draussen, wo es dessen mehr noch bedarf als hier drinnen. Zumindest kann mehr daraus werden. Das Heil liegt in euch, wie man einmal sagte. Ich umarme euch von ganzem Herzen!
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