[Spanien] Die Isolationshaft und die Geschichte der Repression in Spanien | Teil 9 – Die Epidemie der Wut

Quelle: panopticon

Letzter Text der Reihe. Reflektion über die anarchistische Bewegung auf der iberischen Halbinsel vor ungefähr 22 Jahre…

Einleitung von der Soligruppe für Gefangene zu dem Text „Epidemia de la Rábia“

Allererstens, danke an alle die mit der Korrektur geholfen haben. Die Übersetzung von diesem Text war an einigen Stellen mehr als eine Herausforderung. Trotzdem hat es viel Spaß gemacht.

Mit diesem Text beenden wir die Reihe die wir vor einiger Zeit im Gefangenen Info begonnen haben. Wir werden die Textsammlung in absehbarer Zeit auch gebündelt herausgeben.

Einige von uns beschäftigt seit langem die Frage über den Sinn und Unsinn diesen Text zu übersetzten. Dafür gab es vielerlei Gründe. Erstens weil dieser Text nie vollständig veröffentlicht worden ist, der dritte Teil fehlt. Viele Gerüchte und Theorien gibt es darüber, doch so wirklich kann man nicht sagen, warum er nie komplett veröffentlicht wurde. Um nur den Gerüchten und gängigen Theorien zuliebe, nicht nachgehen zu müssen, werden wir sie auch nicht streuen. Vor allem weil diese ja auch schon elf Jahre alt sind und Gerüchte immer nur Dreck sind und im deutschsprachigen Raum keinen Sinn machen, was sie ja nie tun.

Darüber hinaus die Frage, was eine Reflexion und Selbstkritik, die komplett an die iberische Erfahrung gebunden ist, überhaupt für einen Sinn im deutschsprachigen Raum machen könnte. Im aller schlimmsten Falle, würde dies ein weiterer Exzess im Konsum exotischer Kämpfe sein – Beispiele gibt es dafür wie Sand am Meer – ansonsten würde er nur zur Kenntnis genommen werden und im besten Falle verstanden, damit auch hier Auseinandersetzungen stattfinden könnten. Das Letzte ist aber leider nicht möglich, weil aus der Distanz – räumlich wie zeitlich – und nur mit diesem Text in der Hand, viele weitere wichtige Details und Ereignisse fehlen. Jegliche Auseinandersetzung könnte nicht zu einer führen, sondern sich schnell zu einem Fetisch entwickeln oder würde komplett dämonisiert werden.

Dieser Text – mit dem wir an vielen Stellen nicht übereinstimmen, sei es mit seiner Polemik, seinen Schlussfolgerungen, seiner Herangehensweise – ist weder der beste zu dieser Thematik, noch der schlechteste, sondern leider nur der einzige. Die anarchistische Bewegung und vor allem jene Protagonist*innen die diese Zeit erlebten, verpassten die Gelegenheit dazu eine Auseinandersetzung zu führen, außer eben dieser Text. Alle späteren Diskussionen auf der iberischen Halbinsel – die sich mit dem aufständischen Anarchismus auseinandersetzten, sowie mit dieser Zeit die der Text beschreibt, im positiven wie im negativen Sinne – beriefen sich auf diesen Text, oder auf das Hörensagen. Sie waren in diesem Sinne auch meistens ein Produkt einer fetischisierten Zeit die man nicht selber kannte. Hier in Berlin kennen wir ein solches Phänomen nur zu gut, vor allem in Verbindung mit der autonomen Bewegung der 80er.

Einer der Gründe warum dies nicht zustande kam, warum dies auch nicht möglich war, war eben jener Repressionsschlag von 2003 – worauf der Text am Ende nicht eingeht – als 7 Anarchist*innen in Barcelona festgenommen wurden und eine weitere Person auf der Flucht war. Dieser Schlag synthetisierte1 eine Realität, die zwar im spanischen Staat nicht unbekannt war – siehe die Repression gegen die baskische Befreiungsbewegung – doch der die anarchistische Bewegung, trotz vieler Anstrengungen, nicht gewachsen war. Die Solidarität mit den Gefangenen, die bis zu 7 Jahre im Knast waren, ließ auch sehr zu wünschen übrig. Sie waren nicht die ersten und die letzten einer langen Reihe von Anarchist*innen, die eingesperrt wurden und werden.

Das was folgte, war einer Art von Nirvana in dem sich fast alle anarchistischen Kreise auflösten. Viele verschwanden aus Angst und auch aus Indifferenz. Bis 2008 durchlebte, vor allem Barcelona, aber auch die ganze iberische Halbinsel eine lange Durststrecke.

Andere fanden sich in der Organisation wieder, die sie als den Teufel selbst beschrieben und angegriffen hatten, nämlich der CNT. Es gab auch Fälle in denen aus der Ideologie der Informalität, die Ideologie der Formalität empor kam und strafe Gruppen gegründet wurden.

Was übrig blieb, war dieser Text und der Mythos einer so krassen Zeit, die gar nicht so krass war und bei der es vor allem keine Held*innen gab. Es gab vor allem Gefährt*innen die vom Knast und der Repression gebrochen waren, weil die so ersehnte und verkündete Solidarität ausblieb, weil der soziale Krieg zwar vorangetrieben wurde, aber nicht bis zur letzten Konsequenz. Weil am Ende der Wille größer war – was niemals falsch ist, er soll groß sein – als sehen zu wollen, was auf einen zukommen würde.

Die Geschichte des spanischen Staates, ist die Geschichte der Folter und der Verfolgung, die sehr eng mit dem katholischen Fanatismus verbunden ist, der seine Feind*innen nicht nur verfolgt, sondern auch fertig machen will. Die Rache muss wie die Sünde auf dem Körper gebrandmarkt werden.

Und da waren die Anarchist*innen auch mal dran, nur dass sie weit weniger Unterstützung hatten als andere Bewegungen (ETA(m), baskische Befreiungsbewegung und GRAPO zum Beispiel).

Wie soll aus so einer Niederlage, der man nicht gewachsen war, eine Auseinandersetzung folgen? Um die damalige Sprache nachzuahmen, wo war denn der Phönix der aus der Asche empor steigen sollte? Weil ja wie bekannt ist, aus der Asche kommt nur Asche und keine in Flammen stehende Vögel. Wo blieb die Rache von der so gerne in den Texten geschrieben wurde?

Daher, warum diesen Text veröffentlichen der nicht mal fertig ist, über zehn Jahre alt ist und zu dem viele Informationen fehlen. Gerade weil es der Versuch ist eine sehr wichtige Zeit wieder zu spiegeln, die in dieser Form, auf der iberischen Halbinsel seitdem nie wieder stattgefunden hat. Für einen gar nicht mal so kurzen Zeitraum, war eine anarchistische und revolutionäre Bewegung entstanden, die so hungrig nach Wissen und Taten war, wie es seit langem nicht mehr der Fall gewesen ist. Jede Diskussion war eine Erweiterung des Geistes ins Unendliche, jede Barrikade ein Schritt in Richtung Freiheit, jede Sabotage und Direkte Aktion ein Schlag in die Fresse der herrschenden Klasse. Und es war so ansteckend und es waren mal nicht die übliche Verdächtigen, sondern hunderte von Zellen, Initiativen, Projekte und Gruppen! Im Gegensatz zu den leeren Phrasen unserer Zeit, die den Sprung ins unbekannte verkünden, war damals – auch wenn mit vielen Fehlern – der Kampf nicht nebulös oder mit metaphysischen Gelaber vergleichbar, sondern ein gemeinsames Voranschreiten.

Einige die diese Zeit durchgemacht haben, bereuen nichts, sie schauen gerne zurück, um den zurück gelegten Weg betrachten zu können. Denn es geht immer weiter.

Lang lebe die Anarchie!

Die Anarchie ist unaufhaltsam!

Gegen Staat und Kapitalismus, für den sozialen Krieg!

 

1Zusammenfassen

 

Die Epidemie der Wut in Spanien (1996-2007)

Von der Soligruppe für Gefangene übersetzt

Ursprünglich erschienen diese Artikel in der Publikation Resquicios (Bilbao) Nummer 4 und 5 im November 2007 und April 2008.

Die Epidemie der Wut in Spanien (1996 – 2007)

Von den Tigern aus Sutullena

Was wir erlebt haben, kann uns keiner wegnehmen (Präsentation)

Glauben sie mir, dass durch die Art und Weise wie wir handeln, außerhalb des Gesetzes, alles was nicht die strikteste Ehrlichkeit ist, uns in fatale Konsequenzen bringen könnte.

Jack London, Das Mordbüro

Seit einiger Zeit empfinden wir, einige Gefährt*innen, die Notwendigkeit aus den Erfahrungen, die im spanischen Staat von einigen anarchistischen, kommunistischen und autonomen militanten Gruppierungen gesammelt wurden und für eine gewisse Zeit zu einer gewissen „aufständischen“ Idee zusammenflossen, eine Bilanz zu ziehen. Diese Notwendigkeit entspringt aus zwei Umständen.

Der Erste von ihnen ist die Tatsache, dass eine Etappe abgeschlossen wurde. Wir sind nicht mehr am selben Punkt wie vor zehn Jahren – nicht mal wie vor fünf Jahren – und wir wollen daher angemessene Schlussfolgerungen ziehen, um den Schlachten, die sich nicht in einer nebulösen Zukunft befinden, besser die Stirn bieten zu können. Denn diese kommen auf uns zu. Dafür ist es unumgänglich eine Debatte zu eröffnen, oder zumindest eine Reflexion anzustoßen.

Der zweite Umstand, der uns antreibt dies hier zu schreiben, ist die absolute Unkenntnis der Vorgänge der letzten zehn Jahre seitens neuer Generationen von Gefährt*innen. Über diese Unkenntnis muss gesagt werden, dass sie mit der Intensität des Kommunikationsmangels der Internetnutzer*innen, die sich unter uns breit gemacht und fast den Kontakt und die direkten Beziehungen untereinander ersetzt hat, zusammen hängt. Aber sie zeigt auch das Maß unseres Scheiterns in dem Verschwinden von Bezugspunkten, mit denen sich diese Gefährt*innen identifizieren konnten: Kampfprojekte und andere Anziehungspunkte hatten die Kontinuität und Vertiefung an eine kämpfende Bewegung, die nicht klein war, gegeben.

Diesem Scheitern liegt das, was einige Zeit lang als „informelle Organisation“ bezeichnet wurde, zu Grunde. Rückblickend, aus der Perspektive die einem die vergehenden Jahre gewähren, haben wir erkannt, dass es ein eingeschriebenes Scheitern war. Es beruht auf den Vorschlägen, von denen wir ausgegangen waren. Trotz alledem bereuen wir nichts. Wir glauben auch nicht, dass wir Zeit verschwendet haben, genauso wenig wie unsere Gefährt*innen es tun. Hinterher ist es leicht einen Aschenhaufen zu betrachten und zu sagen „alles war ein Fehler“, oder dass die Leute „sinnlos gehandelt haben“. Diese falsche Kritik vergisst, aus Interesse oder aus Ignoranz, die damals vorherrschenden Bedingungen. Dies bringt uns zurück zum Ausgangspunkt – an die lästigen Illusionen des offiziellen Anarchismus oder an die glückliche Bewusstlosigkeit des jugendlichen Antagonismus – und bereitet so das Terrain vor, dass sich alles in einer unbestimmten Zeit – dieser „zyklischen Zeit“, die so charakteristisch für jene politischen Gruppierungen ist, die sich gerne den Mantel der Geschichte umhängen – wiederholt.

Viel schwieriger und ungemütlicher für die ganze Welt ist es, eine dialektische Analyse der Geschehnisse zu erproben. Die Bedingungen von denen wir ausgingen, ließen keine andere Möglichkeit, außer dem was glücklicherweise stattfand, zu. Die Epidemie der Wut war keine weitere ästhetische/ideologische Mode des Ghettos: alle Hypothesen die damals formuliert wurden, wurden bis zur letzten Konsequenz ausprobiert. Auch wenn die Resultate meist katastrophal waren, liegt genau darin eine kollektive Erfahrung, die diesen Namen verdient und deswegen eine Selbstkritik ermöglicht.

Was die positiven Resultate angeht, sind sie vom Maximalismus1 weit entfernt. Das machte uns oft sauer, aber trotz dessen liegen sie vor. Diese Jahre haben es definitiv ermöglicht, zwei Jahrzehnte an Trägheit und Lähmung der libertären Bewegung, von der wir ungewollt die Erben wurden/waren, zu überwinden. Aber vor allem haben sie dazu gedient, so zentrale Fragen, wie die der Revolution oder die der Organisation, wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Und zwar nicht als tote ideologische Gewissheiten, sondern als lebendige, komplexe und dynamische Probleme. Diese Resultate, vielleicht kleine im unmittelbarem Ergebnis, aber qualitativ wichtige in den Möglichkeiten die sich daraus eröffnen, hatten auch einen tragischen Preis. Diesen zahlten und zahlen die Gefährt*innen, die Ziel der Repression wurden und noch sind. Ihnen widmen wir diese Seiten.

Wir müssen darauf hinweisen, dass dieses Schreiben nicht der Versuch ist, irgendetwas aus der Welt zu schaffen. Wir wollen versuchen, einen angemessenen Beitrag zu alldem zu leisten, was wir gesehen, gelebt und während dieser Zeit gedacht haben. Anstatt aus einer päpstlichen Allmacht heraus oder jemanden mit „unserer Meinung“ zu überrumpeln, war es für uns wichtig, diese Geschichte so gut wie möglich zu rekonstruieren und zu versuchen ein breites Bild zu zeichnen. Dass kann nicht nur anhand einer Chronologie gemacht werden, die Schlag auf Schlag erzählt wird, genauso wenig wie mit dem Entstauben vergangener Anekdoten. Es ist notwendig zu beurteilen, welche Geschehnisse wichtiger waren als andere, um eine erklärende Hypothese zu wagen, die zeigt, warum gewisse Dinge so stattgefunden haben und nicht anders. In diesem Prozess bekommt der Text offensichtlich eine subjektive Wendung, für die wir uns allerdings nicht schämen: für eine objektive Version der Dinge gibt es ja schon den Fernseher und die tägliche Presse.

Vor allem war es unmöglich, diese Arbeit zu machen, ohne eine Schlussfolgerung zu ziehen. Das Eine oder Andere haben wir aber erreicht, auch wenn es niemals an Leuten fehlen wird, die versuchen werden, uns das streitig zu machen. So sei es.

I. Es war einmal…

Im Übergang der Jahre 1996 und 1997 befanden sich die gesamten jugendlichen, antagonistischen und antikapitalistischen Bewegungen auf der iberischen Halbinsel an der Schwelle einer Veränderung. Dies war sowohl die Folge von äußeren Bedingungen, als auch die ihrer eigenen Entwicklung innerhalb eines Jahrzehntes. Diese Veränderung im Allgemeinen, erlangte im Falle des Anarchismus, die Form eines gewaltigen Bruches. Der erste Teil unseres Textes bezieht sich auf die Art, wie dieser Bruch vollzogen wurde. Er fand auf zwei Ebenen statt: mit dem offiziellen Anarchismus und seinen Traditionen und mit den, immer mehr, offenen, integrierenden Positionen, welche sich aus dem Schoß des jugendlichen Antagonismus entwickelten. Auf dem Terrain der Kritik befanden sich Gefährt*innen unterschiedlicher Positionen – Autonome, Anarchist*innen oder „unorthodoxe“ Marxist*innen – die die geerbten dogmatischen Positionen beiseite legen würden, um gemeinsam eine effektive revolutionäre Praxis zu finden. Die aufständischen/insurrektionellen Ideen wurden zum Sammelpunkt und zum gemeinsamen Nenner in diesem Moment ungewöhnlicher Umstrukturierungen.

1. Der offizielle Anarchismus.

Anfang der 90er Jahre waren die Effekte der kapitalistischen Umstrukturierung in Spanien sichtbar. In diesem Kontext wird die Sklerose des offiziellen Anarchismus – die libertäre Bewegung die sich schon ohne Weiteres den Eigennamen selbst zugeschrieben hatte – immer offensichtlicher. Seit dem Ende der Diktatur wurde versucht die historische CNT nachzuahmen. Unter den vorherrschenden Bedingungen, führte das innerhalb kurzer Zeit zu einem Bruch und zur Bildung von zwei Fraktionen. All dies ist eine alte Geschichte und Allen bewusst. Vielleicht wurde aber nicht von Allen festgestellt, dass die Polemik zwischen diesen beiden Fraktionen – bezogen auf den Zwist zwischen „gewerkschaftliche Wahlen ja oder nein“- für zwei lange Jahrzehnte die militante Debatte innerhalb des Anarchismus blockierte. Versunken in diesen autistischen Monolog, gelang es der ablehnenden Fraktion, die historische Abkürzung der CNT zu behalten. Wir meinen mit dieser Fraktion den „offiziellen Anarchismus“. Sie erlebte die Umstrukturierung des spanischen Kapitalismus in/aus einer Position der wachsenden Isolation und Marginalisierung. Während die Andere (heute die CGT) freiwillig ihre anarchistischen Referenzen verwässerte, bis sie sich damit begnügte nur noch einen bleichen Hauch an „Libertärem“ zu besitzen, der ihr respektables Bild nicht schädigen würde.

In den 20 Jahren von denen wir reden, war der offizielle Anarchismus gänzlich unfähig auch nur ein einziges Konzept zu erarbeiten, dass sich der historischen Veränderungen, die wir durchmachten, bewusst war. Ebenso wurde keine einzige organisatorische Neuerung eingeführt, die es erlaubt hätte den Veränderungen im sozialen Terrain und auf der Arbeit die Stirn zu bieten. Immer in der Defensive, erstarrte sie in der erneuten Bekräftigung der „Prinzipien“ der Ideologie, einer aus dem Mythos geborenen Vergangenheit und einer organisatorischen Form, die nicht weniger ein Mythos war und die aus dem Jahr 1918 stammt. Zusätzlich zu alldem, kommt noch eine erstickende bürokratische Atmosphäre, eine Menge an Fotokopien, Stempeln, Komitees, Plenarsitzungen und Vollversammlungen für eine mickrige Organisation, die im Jahr 1996 nicht mehr als 3000 Mitglieder hatte2.

Zu den Organisationen des offiziellen Anarchismus stießen Anfang und Mitte der 90er Jahre junge Militante hinzu. Sie waren durch ihre „glorreiche“ Vergangenheit, ihren kämpferischen Heiligenschein, der mehr ästhetisch als real war, und einen Diskurs, der damals, ohne zu übertreiben, der krasseste der gesamten Situation war, verblendet. Die CNT stellte keine Hürden, für diese Flut an jugendlichen Beitritten auf, was aufgrund der geringen Anzahl an Militanten nicht verwunderlich war. Ein weiterer Grund für die unbegrenzte Aufnahme, war die vorherrschende Fixierung auf die Beitrittszahlen. Die Federación Ibérica de Juventudes Libertarias3 (FIJL) diente nicht als eine „Vorschule“ für diese jungen Militanten, sondern es fand ab dem Beitritt häufig eine Doppelmilitanz4 in beiden Gruppen, der FIJL und der CNT statt. In der zuletzt genannten landeten die Jugendlichen, ausrangiert in handlungsunfähigen „Sektionen für Schüler*innen und Student*innen“.

Einmal in der Gewerkschaft angekommen, nahmen diese Jugendlichen eine bemerkenswerte Verzerrung zwischen der Radikalität des Diskurses und einer nicht existierenden Praxis wahr: zwischen der Arbeiter*innenbewegung der „20er Jahre“ und der fehlenden Präsenz in den Unternehmen, zwischen den öffentlich ausgerufenen Zahlen von Mitgliedern und den realen Zahlen, zwischen der Sicht auf die Welt und der Realität selbst. Letztendlich zwischen dem „Glanz“ des Mythos der Vergangenheit und dem Elend der Gegenwart. Sie trafen auch immer häufiger auf Verachtung und herabschauendes Verhalten durch die älteren und erfahrenen Militanten.

Diese jugendlichen Militanten dienten nicht selten als Kanonenfutter für die bürokratischen Kämpfe innerhalb des offiziellen Anarchismus, ohne dass sie sich vollständig den Manipulationen, denen sie unterzogen wurden, bewusst waren. Zweifellos konnte es gar nicht anders sein, als dass sie voller Unreife und Unerfahrenheit waren. Es muss auch gesagt werden, dass sich niemand darum scherte ihnen, außer den vier unerlässlichen Dogmen, etwas zu zeigen. Im Allgemeinen erlaubten sie es sich, sich mit den schlimmsten Eigenschaften der Organisation zu beschmutzen, vom extremen Sektierertum bis hin zum bürokratischen Wahn und, durchgehend, durch intellektuelle Faulheit. Sie hatten aber auch einen ehrlichen Willen, diese erbärmliche Situation zu überwinden, auch wenn sie nicht wussten wie. Dieses Engagement, welches echt war und über Jahre von vielen getragen wurde, musste mit der Unbeweglichkeit der Organisation zusammenknallen – und es knallte – weil sie von Wünschen nach Veränderungen getrieben waren, auch wenn jede*r die Art der Veränderung auf seine Weise umsetzte.

Mitte der 90er Jahre hatte die theoretische und praktische Lähmung des offiziellen Anarchismus intern eine mehr als komische Stimmung verursacht. In solchen Situationen von Stillstand entstehen unvermeidbar interne Konflikte. In der CNT gab es viele. Aber der bekloppteste davon war, der der „Desföderation“5 – ein Euphemismus für den Rauswurf – eines wichtigen, wenn nicht sogar mehrheitlichen Teils der katalanischen Sektion. Wie bei den meisten internen Kämpfen der Konföderation blieben die wirklichen Gründe für den Zusammenstoß im Dunkeln. Es interessierte keinen der beiden Teile die Gründe für die Vorgänge zu klären. Keine einzige ideologische Begründung wurde vorgebracht, nicht mal ein minimales theoretisches oder praktisches voneinander Entfernen der beiden Fraktionen, welches eine solche organisatorische Schlappe hätte erklären können. Es wurde nicht einmal versucht. Es handelte sich nur um einen Konflikt unter bürokratischen Cliquen, in dem sich der Sektor behauptete der am meisten Unterstützung vom bürokratischen Netz, welches in ganz Spanien die CNT beherrschte, erhielt. Ähnliche Kämpfe fanden innerhalb der ganzen Konföderation statt. Wenn ein Disput irgendwo endete, blühte ein anderer auf. Dies zermürbte die Moral der Organisation und zog ihr Ansehen durch den Kakao.

Einer dieser Konflikte hatte eine charakteristische Relevanz für die Geschichte, die wir erzählen wollen. Es handelt sich um einen internen Kampf, welcher in der CNT von Madrid in den Jahren 1997 bis 1998 stattfand. Kaum war ein interner Konflikt, der zum Rauswurf des ganzen Sindicato de Oficios Varios6 geführt hatte, überwunden, brach der nächste Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Fraktionen aus. Die Polarisierung war innerhalb der Pathologie der CNT üblich: ein in der Minderheit stehender „anarchistischer“ Sektor, angeführt von der Metallgewerkschaft, stand zu einem „syndikalistischen“, gebildet durch den neuen Sindicato de Oficios Varios, der Transportgewerkschaft und der Baugewerkschaft, in Konfrontation. Die Mitglieder der lokalen Föderation der FIJL – einer der größten und aktivsten innerhalb der gesamten FIJL – reihte sich bei der Metallgewerkschaft ein. Die „syndikalistische“ Fraktion war irritiert von der Gewalt, die diese Jugendlichen, z.B. im antifaschistischen Kampf und in den ständigen Angriffen gegen Zeitarbeitsfirmen, entfalteten. Außerdem verziehen sie ihnen eine außergewöhnliche und unverantwortliche7 Handlung, einen Akt der kollektiven Verantwortungslosigkeit gegenüber der CNT, nicht. Es handelt sich um die Besetzung vom CES8 im Dezember 1996.

Der verborgene Konflikt eskalierte im Jahr 1997 im Nationalkomitee der CNT, das ein Jahr zuvor in Madrid aufgestellt wurde und in dem sich die beiden bürokratische Sektoren die Posten aufgeteilt hatten. Aufgrund unbekannter Gründe wurden beide Repräsentanten des „Metall“-Sektors aus der Gewerkschaft und letztendlich auch aus dem Nationalkomitee rausgeworfen. Zusätzlich zu diesem Fall, wurde auch ein großer Teil der Sektion der Schüler*innen und Student*innen – in der sich auch einige Militante der FIJL befanden – rausgeworfen. Dies alles mit der Beschuldigung „gewalttätige“ Jugendliche zu sein, die während der Schüler*innendemos dieser Zeit Auseinandersetzungen verursachten.

Mitglieder der Gewerkschaft der Schüler*innen und Student*innen tauchten am Sitz von Tirso de Molina auf, um ihre demokratischen Beschwerden den Päpsten der Organisation CNT vorzubringen. Diese warfen dann, demokratisch, die widerspenstigen Jugendlichen, die den Frieden der linken Kreise verdarben, raus. So trat man in einen offenen Konflikt ein, in dem der mehrheitliche Sektor, den „Metallsektor“, mittels einer Reihe von „gerechtfertigten“ Rauswürfen mit unterschiedlichen Vorwänden, liquidierte. Einige der Rauswürfe waren so unsinnig wie der bereits erwähnte. Der Gipfel der Konfrontation wurde erreicht, als einige Mitglieder der FIJL, die bereits aus der Gewerkschaft ausgeschlossen waren, auf einem Treffen des Nationalkomitees, dessen Sitz in der Calle Magdalena befand, auftauchten. Sie verlangten nach Erklärungen von denjenigen, die sie, angefangen mit dem damaligen Generalsekretär, für verantwortlich hielten. Es kam zwischen beiden Seiten zu einem Austausch handfester Argumente. Das Nationalkomitee und die lokale Föderation von Madrid präsentierten dies der restlichen CNT als einen organisierten „Überfall“. Dadurch erhielten sie die Zustimmung, fast aller regionalen Kommitees, die bisher zu den Rauswürfen schwiegen, da sie diese für eine interne Angelegenheit in Madrid gehalten hatten.

Bis hierhin erklärt sich die Situation aus der Art des Umgangs mit Konflikten, der von der CNT seit 1977 entwickelt und perfektioniert wurde: bürokratische Manöver9, waschechte stalinistische Rauswürfe und eine unvermeidbare Dosis an Schlägen. Letzteres als ein Ausdruck von Wut seitens der Besiegten oder als endgültiges Argument der Sieger. Vom Nationalkomitee wurde nun zusätzlich beschlossen, einen weiteren Akt des Wahnsinns durchzuführen und die FIJL nicht nur aus der lokalen Föderation von Madrid, sondern aus der ganzen Organisation, zu vertreiben. Die Opferrolle, als eine Konsensstrategie, welche rund um den „Überfall“ auf das Nationalkomitee artikuliert wurde, löste eine Hexenjagd aus. Dadurch diente die FIJL für die inhärenten strukturellen Spannungen in der CNT, als Sündenbock. Das Nationalkomitee der Gewerkschaft entschied sich einseitig und auf eigene Faust für einen Bruch der Beziehungen mit der FIJL. Genau genommen, konnte dies nur der Kongress der Organisation entscheiden. Solch ein Bruch hatte nicht nur eine symbolische Bedeutung. Er erlaubte es von nun an, die FIJL als eine „externe Avantgarde“ abzustempeln, die die Gewerkschaft führen wollte. Daraufhin wurde die Hetze gegen Militante in allen Ortschaften, wo es Gruppen, die in der FIJL organisiert waren, gab, initiiert. In Bilbao und Granada wurden ihre Archive aufgebrochen10 und interne Dokumente gestohlen. In weniger als einem Jahr wurden aus allen Gewerkschaften, alle Militanten der FIJL rausgeworfen. Dies geschah entweder durch einen direkten Rauswurf, durch Erschöpfung oder sie wurden voller Ekel ins Abseits gestellt. Es wurde der Geist einer möglichen Radikalisierung der CNT beschworen, der, wie wir sehen werden, sofort Gestalt annehmen würde. Nämlich in Form jener Minderheit von Militanten, die für die Unterstützung der Gefangenen des Bankraubs in Córdoba waren.

Was die FIJL angeht wird diese in der Erinnerung des offiziellen Anarchismus dämonisiert bleiben. Sie wird einen eigenen und unabhängigen Werdegang beginnen. Bis zu diesem Moment war die jugendliche Föderation eine Art extreme Kristallisation des eigenen Sektierertums des offiziellen Anarchismus. Ihre Existenz drehte sich um den falschen Glauben, dass eine „radikalere“ Praxis möglich sei, ohne die Voraussetzungen in der CNT zu modifizieren. In Wirklichkeit verteidigten die Militanten der FIJL, als Mitglieder in der Gewerkschaft, die Orthodoxie der CNT mit wildem Dogmatismus. Daher konnten sie so leicht von den „reinen“ Sektoren manipuliert werden. Ihre Aufopferung in den Händen jener, die eine Gewerkschaft mit einem „zivilisierten“ und freundlichen Profil haben wollten, würde die FIJL komplett desorientieren und sie ins Leere laufen lassen. Bis sie sich an den Insurrektionalismus als einen Rettungsring klammern wird. Nach den Mitgliedern der FIJL werden bald weit größere Sektoren von jungen Mitgliedern, die CNT verlassen. Und dies angeekelt, nach dem sie – in einigen Fällen für viele Jahre – gegen eine unbewegliche Bürokratie gekämpft hatten.

2. Der jugendliche Antagonismus

Der offizielle Anarchismus legte auf seinen Kongressen, mit einer großen Begeisterung fürs Aus- und Einschließen fest, dass die „libertäre Bewegung“ aus der CNT, der FAI, der FIJL und Mujeres Libres bestand. Die Wahrheit ist, dass die Realität komplexer war und mit ihren ständigen veränderbaren Facetten die Bequemlichkeit des bürokratischen und sektiererischen Konzepts in Unruhe versetzte. Außerhalb der perfekt festgelegten Grenzen der formalen Organisationen des Anarchismus, breitete sich eine weitläufige und heterogene Bewegung, deren Keime seit Mitte der 80er aufgetaucht waren, in alle Richtungen ein wenig aus. Diese konzentrierte sich auf Besetzungen, Fanzines, Büchervertriebe11, Musikgruppen, Gruppen und Kollektive der Affinität, sowie auf die Teilnahme an breiteren Bewegungen, wie die antimilitaristische, die damals mit der Kampagne für Totalverweigerung startete. Diese Konstellation, die sich entweder als anarchistisch oder autonom bekannte, war am Rande der gealterten Arbeiter*innenbewegung des offiziellen Anarchismus geboren. Sie bewegte sich unter verschiedenen Koordinaten, die im Allgemeinen durch ein „anti“ – antisexistisch, antirepression, antimilitaristisch, antifaschistisch, anti-stierkämpfe, etc. – und das jugendliche Zusammenleben als leitenden Faden definiert waren. In diesen Netzen wurden sinnbildliche Publikationen unterstützt wie Sabotaje, Resiste, El Acratador, La Lletra A oder Ekintza Zuzena, um einige zu nennen. Wegen ihrer Unfähigkeit eigene Koordinationsinstanzen aufzubauen und gemeinsame Linien für die Aktion zu finden, hielt ein Teil dieser jugendlichen Bewegung die CNT, aufgrund ihrer Stabilität und ihrem mystischen Heiligenschein, noch immer, wenn auch weniger respektvoll, als eine Referenz hoch.

Dennoch genoss, in einigen Orten, der jugendliche Antagonismus eine eigene spezifische Rolle, die jene des offiziellen Anarchismus überschreiten wird. Es ist banal darauf hinzuweisen, dass Euskadi eine Ausnahme in diesem Fall ist, da es dort anders war. Es ist bekannt, dass dort der soziale Krieg eine andere Entwicklung genommen hat. Themen wie Gewalt und Knast, welche die Epidemie der Wut nach Jahrzehnten wieder in den iberischen Anarchismus einführte, haben dort für Tausende von Menschen, und nicht nur für einen kleinen Kreis von Aktivist*innen, nicht aufgehört eine alltägliche Realität zu sein. Es handelt sich also um einen so spezifischen Kontext, dass es, trotz der Präsenz eines jugendlichen Antagonismus, der mit Kraft Mitte der 80er in Euskadi entstand, auf vielen Ebenen das restliche Land beeinflusste und es mit vielen Anknüpfungspunkten bestückte, notwendig ist, ihn am Rande dieser Geschichte zu belassen.

Aus Zeit- und Platzgründen können wir nicht alle Ereignisse bearbeiten, welche wir gerne erwähnen würden. Zum Beispiel war Valencia ein wichtiger Ort für Besetzungen. Außerdem wurde dort Anfang 1997 der berühmte Text Alles was du über Besetzungen dachtest und dich nicht getraut hast in Frage zu stellen veröffentlicht. Dieser war einer der ersten einheimischen Texte der Ideen beinhaltete, die die Epidemie der Wut später entwickelten, die sich Lichtjahre von der Liturgie des offiziellen Anarchismus entfernt und sich vor dem kommenden spektakulären Charakter der Hausbesetzer*innenbewegung befanden. So könnten wir weiterhin einige wichtige Orte erwähnen. Aufgrund der Begrenzung dieser Arbeit wollen wir uns aber auf zwei Höhepunkte des jugendlichen Antagonismus, die einen starken Einfluss auf die Entwicklungen, die im restlichen Staat stattfanden, haben würden, konzentrieren. Hier ist die Rede von zwei Metropolen: Madrid und Barcelona.

In Madrid fand ein einzigartiger Fall statt. Dort verschaffte sich der jugendliche Antagonismus sehr frühzeitig die Mittel zur Koordination. Diese Strukturen würden praktisch ein Jahrzehnt bestehen. Es handelt sich um die Koordination von Kollektiven namens Lucha Autónoma (LA). Sie wurde 1990 von dem Zusammenschluss der ersten frisch gebackenen Hausbesetzer*innen aus Madrid, sowie von Jugendgruppen, die sich von den Organisationen der extremen Linken wie MC12 und LCR13 – deren Führung sie am Ende anekelte – getrennt hatten, gegründet. So wurde eine einzigartige Organisation geboren, die, auch wenn sie nicht fähig war über das Madrider Ambiente hinaus zu gehen, den Stoff für wirkliche Kampfdynamiken und „Selbstorganisation“, um die Sprache von damals zu verwenden, lieferte. LA konnte einer starken Stilisierung, die in der Bewegung üblich und eins der grundlegenden Elemente war, nicht entfliehen. Es war eine Organisation, die durch den Charakter des Aktivismus gekennzeichnet war. Dieser diente als ideologisches Sammelsurium – ein Charakterzug, der es LA anfangs erlaubte zu wachsen, sich aber im Nachhinein gegen sie wandte. Im Laufe des Jahres 1997 führte ihre eigene Entwicklung und die fehlende gemeinsame Diskussion zur Entstehung von entgegengesetzten Positionen innerhalb der Organisation. Dies verursachte eine Krise, die 1998 in ihrer Auflösung mündete. Kurz darauf wurde versucht sie wieder neu zu gründen. Nach einem italienischen post-operaistischen Diktat, sollte LA von ihren „traditionellen“ anarchistischen und autonomen Komponenten „emanzipiert“ werden. Aber dieser Sprung ins Leere, zahlte sich durch ein schnelles und diskretes Versagen aus. Ansonsten umfasste diese Organisation nicht den ganzen jugendlichen Antagonismus in Madrid in den 90ern. Außerhalb von ihr existierte eine breite Konstellation weitläufiger Gruppen, besetzter Häuser, Büchervertriebe, Kollektive und weiteren. Es ist ohne Zweifel richtig anzuerkennen, dass LA während dieses Jahrzehnts eine wichtige Referenz in Madrid war. Dies gilt bis zu dem Punkt, da das Verschließen gegenüber ihren Erfahrungen negative Folgen gehabt hat, die noch heute, zehn Jahre später, in den internen Brüchen in der Madrider Bewegung zu spüren sind.

Was Barcelona angeht, glauben wir nicht, dass dort die Erscheinung einer starken antagonistischen Jugend von der Tradition der Rebellion in der eigenen Stadt und ihrer Peripherie zu trennen ist. Deren letzte Auswüchse waren die Kämpfe der Arbeiter*innen und der Nachbarschaften in den 70er Jahren. Im Gegensatz zu Madrid, strukturierte sich die Bewegung dort in informellen Netzen. Diese waren in dem sozialen Gewebe der Stadtteile, in den besetzten Häusern und in den persönlichen Affinitäten unter den Gefährt*innen eingebettet. Dieses politische Mittel entwickelte sich abseits jedes Einflusses der katalanischen CNT, die seit Anfang der 90er zu sehr damit beschäftigt war, sich selbst zu zerstören. Wie üblich fand in der CNT ein mafiöses Spektakel der Uneinigkeiten statt. Das erste erwähnenswerte Highlight der Bewegung in Barcelona, lag in der Kampagne gegen den Prunk von `9214. Aus dieser gingen die Erweiterungen des Kampfes in der Gestalt von Hausbesetzungen hervor. Die Anzahl von „befreiten“ Wohnungen hatte eine so kritische Masse erreicht, dass sie im Staat ihresgleichen suchte. Dieser Aufruhr wird 1996, rund um die Besetzung und Räumung des schon verschwundenen Kino Princesa, das sich im Zentrum von Barcelona befand, einen qualitativen Sprung machen. Nach sieben Monaten, in denen sich in ganz Barcelona eine Dynamik von unaufhaltsamen Aktivitäten entwickelte, wurden die Squater*innen aus der Princesa15 geräumt. Dies geschah in Form einer mittelalterlichen Belagerung, bei der alles mögliche auf die Cops flog. Auf der darauf folgenden Demonstration versammelten sich tausende Menschen. Sie endete in einem der größten Krawalle16, an den sich Gefährt*innen aus Barcelona erinnern können. Die Unruhen, die in Barcelona stattfanden, übertrugen sich auf das ganze Land. Das Echo von Princesa wurde im März 1997, neben einer breiten medialen Berichterstattung, durch eine andere Räumung verstärkt. Derjenigen von La Guindalera in Madrid, bei der über hundert Personen verhaftet wurden.
Den Geschehnissen von Princesa und La Guindalera folgte eine Welle von Besetzungen im ganzen Land. Die meisten von ihnen waren von kurzer Dauer, da sie durch die schnelle Intervention der Cops geräumt wurden. Diese hatten zweifellos die Befehle, zu verhindern, dass sich diese Beispiele verbreiten. Der Staat begann sich Sorgen zu machen. Das bewiesen auch die neuen Strafgesetze von 1996, in denen höhere Strafen für das Verbrechen des „Diebstahls“17 festgelegt wurden. Die libertären Teile des jugendlichen Antagonismus hatten das erste Mal einen Spiegel vor sich, der nicht mehr der der CNT war, in dem sie immer als die kleine Schwester erschienen. Sie hatten die Volljährigkeit erreicht und ihre kleine Welt war in die Nachrichten vorgedrungen. Ab diesem Moment konnten sie die CNT mit einer gewissen Distanz betrachten. Ohne dass in diesem Moment ein Bruch stattfand, fing die Kritik an sich auf eine versteckte Art zu entwickeln. Es wurde den Gefährt*innen, die die CNT vor einiger Zeit entmythifiziert hatten, mehr Gehör für die Kritik geschenkt. Falls man ihnen vorher überhaupt jemals geglaubt hatte.

Andererseits war es das Wichtigste, dass das verbreitete Bewusstsein eine Phase überwunden hatte und Tür und Tor für den jugendlichen Antagonismus öffnete, um neue Themen, Ideen und Konzepte einzuführen. Hier entwickelte sich ein neuer Widerspruch zwischen unterschiedlichen Positionen. Auf der einen Seite standen jene, welche die Art der Vertiefung und Radikalisierung der Konfrontation mit dem Staat und dem Kapitalismus suchten. Auf der anderen Seite jene, die dazu tendierten diesen Konflikt zu verherrlichen und auf eine „sympathische“ und harmlose Art zu repräsentieren, die es erlauben würde „mehr Leute zu erreichen“. Es wäre eine Vereinfachung – die etliche Male vorgenommen worden ist – beide Seiten als „revolutionär“ und/oder „reformistisch“ zu definieren. Die Erste von beiden konnte nicht effektiv revolutionär sein, egal wie hartnäckig dies versucht wurde. Es fehlte an einem revolutionären Projekt, das über die einfache Zerstörung, die in jenem Moment vorherrschte, hinausging. Dies geschah in einem historischen Moment, in dem die Flut der Konterrevolution, die 1968 stattgefunden hatte, noch nicht abgeebbt war. Die zweite Position strebte nicht mal danach irgendetwas zu reformieren. Sondern nur danach die Überbleibsel des „Sozialstaates“ zu bewahren und eine parastaatliche Verwaltung der Fürsorge gewisser Bereiche des sozialen Ausschlusses zu erhalten, welche durch die kapitalistische Umstrukturierung generiert wurde (soziale Unsicherheit, Migration…). Dieser Widerspruch durchdrang die gesamte Bewegung. Er trat bei der Auflösung von Lucha Autónoma und in den Disputen, über die Legalisierung von besetzten sozialen Zentren in Madrid, offen zu Tage. Wenig später offenbarte sich dieser Bruch auf den großen Antiglobalisierungstreffen in Form einer spektakulären Repräsentation, vor allem zwischen der Polarisierung des „Schwarzen Blocks“ und der „Monos Blancos18“.

3. An irgendeinem Tag in Córdoba

Bis jetzt haben wir vieles rekapituliert. Wir haben versucht, ein Bild vom Kontext, in dem sich die Epidemie der Wut ausbreitete, zu zeichnen. Wir hätten unseren Text auch mit diesem Punkt beginnen können, dann aber zu dem Preis, die Dimension der Geschehnisse zu entkräften. Jede Geschichte muss ihren Anfang haben, oder zumindest einen Auslöser und für uns war es die Geschichte, die in Córdoba am 18. Dezember 1996 stattfand. Drei italienische Gefährten und einer aus Argentinien, damals für die Bewegung noch Unbekannte, versuchten eine Filiale der Bank Santander zu überfallen. Die Geschichte ist weit bekannt und es lohnt sich nicht sie auszuweiten. Zwei Cops starben und die vier Angreifer wurden festgenommen. Ihre Namen: Giovanni Barcia, Michele Pontolillo, Giorgio Rodríguez und Claudio Lavazza.

Im ersten Moment war es ein Ereignis, das eher für die Titelseiten der Zeitungen geeignet schien. Es benötige etwas Zeit und dass sie ihre Aktion als eine politische Tat erklärten, um die anarchistische Gesinnung der Angreifer und der Tat zu begreifen. Auch wenn sie in Spanien unbekannt waren, waren sie repräsentativ für den Schwung der revolutionären Bewegung in Italien der letzten 20 Jahre. Lavazza begann seinen Werdegang als Jugendlicher innerhalb der Kämpfe der Arbeiter*innen in den 70er Jahren. So, wie viele andere italienische Militante, entschied er sich die Waffen zu ergreifen. Er war Teil der Organisation Proletari Armati per il Comunismo19, die sich mit leninistischer Prägung an dem Kampf gegen das Knastsystem orientierte. Von dort aus entwickelte er sich hin zu anarchistischen Positionen, ohne dass er die Kreise des Untergrundes verließ.

Pontolillo und Barcia waren sehr aktiv innerhalb aufständischer Kreise im italienischen Anarchismus, die ihren Ursprung in den 80ern hatten. Der Erste hatte in Italien eine offene Haftstrafe wegen Totalverweigerung des Militärdienstes. Der Zweite war im Rahmen der „Marini-Inszenierung“ angeklagt, darüber werden wir später reden. Ihre Verbindung mit dem Anarchismus war daher nicht erst kürzlich entstanden. Noch weniger war sie (wie einige mit Bosheit behaupteten) ein kalkulierter Opportunismus, um im Falle einer Verhaftung Unterstützung zu bekommen.

Fast ohne Kontakte zum spanischen Anarchismus brauchten ihre Stimmen eine gewisse Zeit, um aus dem Knast zu kommunizieren. Sie machten es letztendlich mittels der Seite des Llar, ein Bulletin aus Asturias, welches frei von jedem Dogmatismus war. Das Llar verband mit seinem verblüffenden Layout ein viel saubereres Resultat im Vergleich zu den üblichen fotokopierten Fanzines der Zeit. Abgesehen davon, dass es gratis war und die Regelmäßigkeit mit einer bemerkenswerten Genauigkeit aufrecht erhalten wurde, genoss es außerdem eine außerordentliche Verbreitung, nicht nur in Asturias sondern in ganz Spanien. Alle Gewerkschaften der CNT und praktisch die Gesamtheit der antagonistischen Bandbreite: Kollektive, Vertriebe, besetzte Häuser, usw. wurden erreicht.

Durch all dies war Llar das Vehikel par excellence für eine Polemik, aus der die CNT nicht schlechter hätte herauskommen können. Ab dem Moment, in dem das Bulletin aus Asturias die anarchistischen Positionen der Bankräuber aus Córdoba bekannt machte, erhoben sich die Stimmen, inner- und außerhalb der CNT, die verlangten, dass die Gewerkschaft sie zu unterstützen habe. Zu Ehren der Wahrheit muss gesagt werden, dass eine Minderheit, aber eine bedeutende, an Militanten der Gewerkschaft dafür waren, die Enteigner als eigene Gefangene zu übernehmen. So, wie es Jahre zuvor mit dem Fall des libertären Gefangenen Pablo Serrano war, und es sogar einige Gewerkschaften, wie die aus Avilés, dann auch machten. Diese CNT Mitglieder*innen tendierten dazu, sich mit anderen Gefährt*innen aus dem jugendlichen Antagonismus zu gruppieren, ohne die Gewerkschaft zu verlassen. So wurde die erste Generation von Gruppen der Cruz Negra Anarquista (CNA) in Granada, Villaverde und anderen Orten gegründet. Ihr Ziel, außer dem üblichen „Kampf gegen die Knäste“, war es, anarchistische Gefangene zu unterstützten. Diese Gruppen waren kuriose Phänomene der „Übergangszeit“, da sie nicht von vornherein von einem Bruch a priori20 mit der CNT ausgingen und sich sogar in ihren Räumen trafen. Aber das Misstrauen, wenn nicht sogar eine offene Feindseligkeit seitens der Organisation, brachte sie dazu, ihre Illusionen über die CNT abzulegen und andere Wege zu gehen.

Abgesehen von diesen Ausnahmen, war die Organisation größtenteils mehr als zögerlich, ja sogar offen abgeneigt, eine Form von Unterstützung für die Verhafteten aus Córdoba zu leisten. Was vorherrschte war die Angst vor der Kriminalisierung. Die Abneigung der Organisation verstrickte sich in ideologischen Argumenten, inklusive einer Vorverurteilung der Protagonisten des Überfalls. Wie von uns gezeigt worden ist, entwickelte sich diese Polemik im Laufe des Jahres 1997 innerhalb einer „gewissen Ordnung“ vor allem auf den Seiten des Llar, mit einigen Interventionen aus der Zeitung cnt. Mitte 1997 fanden zwei Ereignisse statt, die eine unumkehrbare Polarisierung verursachten. Das Erste war der Beginn des Verfahrens, wegen dem Überfall in Córdoba, bei dem auf einer Kundgebung zur Unterstützung der italienischen Gefährten aufgerufen wurde. Einige Jugendliche von außerhalb erschienen, ohne irgendeine Gewerkschaft zu repräsentieren, mit einer Fahne der CNT. Die Kommunikationsmedien gewichteten diesen Vorfall stark. Die CNT distanzierte sich gänzlich davon, wodurch sie mit noch größerer Kritik, aus den wachsenden Unterstützungsgruppen der gefangenen Enteigner, konfrontiert wurde.

Das zweite wichtige Ereignis war die Räumung des Centro Social Autogestionado (CSA) in Gijón (abgesehen von anderen Gruppen war es auch der Treffpunkt der Llar) seitens der CNT, welche den Ort in Nießbrauch21, als ein Teil des Patrimonio Sindical Acumulado22 hatte. Die Räumung wurde mit Gewalt und ohne Warnung vollzogen. Die vorgebrachten schwachen Gründe der Gewerkschaft rechtfertigten eine solche Aktion, die sehr stark an die Räumung besetzter Häuser erinnerte und wahre Empörung unter vielen Menschen verursachte, nicht. Die inoffiziellen Hauptgründe waren die Kritiken an der CNT, die an das Llar von ihren Leser*innen geschickt wurden und die das Llar pünktlich veröffentlichte. Die Form, in der die Räumung stattfand, war außerdem repräsentativ für den Paternalismus und die Überheblichkeit, mit der aus der CNT die „andere“ libertäre Bewegung, nicht nur in Gijón, behandelt wurde. Aufgrund dessen kam die Identifikation und die Solidarität vieler Leute mit dem CSA unverzüglich.

Ab diesem Moment eskalierte die Polemik sehr schnell. Die Auflage des Llar, das an sich schon für eine gegeninformative Publikation sehr groß war, hörte im Verlauf dieses Prozess nicht auf zu wachsen. Das Gleiche könnte über ihre Unterstützung gesagt werden. Von ihrer letzten Nummer (September 1999) erschienen 7.000 Exemplare. In der selben Zeit betrug die Auflage der Zeitung cnt 3.000 Stück, von denen ein Drittel bei den Gewerkschaften Staub sammelte, da sie sich nicht darum kümmerten sie zu verteilen. Die gezielte und „informelle“ Verteilung des Llar zeigte sich in diesem entscheidenden Moment viel breiter und wirksamer, als die verknöcherte Presse der Gewerkschaft.

Da es von Bedeutung war, wollen wir einige Bemerkungen über die, von beiden Seiten, sehr niveaulose Polemik machen. Die CNT hätte man mit einem einfachen und unwiderlegbarem Argument verteidigen können: dass sie keine Verpflichtung gegenüber Gefangenen hatte, die einer anderen Strömung, welche noch dazu in Spanien unbekannt war, angehörten, und dass sie mit Mitteln, die den Methoden der CNT fremd waren, einseitig gehandelt hatten. Etwas, was so offensichtlich war, fiel niemanden ein. Der falsche Schritt der CNT-Mitglieder die intervenierten, auch wenn sie niemand darum gebeten hatte, war der Versuch zu klären dass die Gefangenen aus Córdoba keine Anarchisten sein konnten. Und zwar, weil weder ihre Methoden noch ihre Sichtweisen mit denen der heiligen Organisation übereinstimmten. Sie waren ja seit langer Zeit daran gewohnt Zertifikate der anarchistischen Reinheit auszuhändigen und zweifelten daher keinen Moment daran, dass dies ein weiterer Fall war, in dem sie das auch machen durften. Sie erkannten nicht – der Kopf reichte dafür nicht mehr aus – dass die doktrinären Exkommunizierungen des offiziellen Anarchismus nur dann funktionierten, wenn sie diese gegen ein Wesen „zu ihrer Rechten“ anwandten. Aber die Positionen der Italiener waren viel radikaler als ihre eigenen, da sie den unmittelbaren revolutionären Angriff verteidigten und zusätzlich diesen auch ausübten. Daher trafen die armen Inquisitoren auf eine offene Rebellion von einem Haufen an Leuten, die seit Jahren ihren Schwachsinn im Stillen ausgehalten hatten. Verwirrt durch dieses unerwarteten Ereignis, für das ihre Programmierung keine schnelle Antwort fand, kamen sie mit nichts mehr zurecht und ihnen fiel nichts besseres ein. Sie begannen moralisch zu urteilen.

Das zugrunde liegende Problem lag darin, dass ein Umfeld der CNT, welches sie für einen Referenzpunkt gehalten hatte, von ihnen verlangte, auf der Höhe des verbalen Extremismus zu sein, den sie seit Jahren verbreitet hatte. Da nicht über Theorien diskutiert wurde, sondern über sehr ernste vollendete Tatsachen, die ihr medial sehr schaden konnten, war die CNT in Panik geraten. Es stellte sich heraus, dass ihre Radikalität nur Geschwätz war und das ihre Selbstisolierung nur eine Form der Integration in das System war, welches sie vorgab zu bekämpfen. Was auf den Seiten des Llar während vieler Monate gesehen werden konnte (es muss noch gesagt werden, dass es noch kein Internet gab) war eine Wiederholung des Märchens, in dem ein Kind in seiner Unschuld aufzeigt, dass der Kaiser nackt ist, so dass es keiner mehr leugnen kann. In diesem Falle hieß das Kind Michele Pontolillo. Seine „Unschuld“ entsprang aus der Tatsache, dass er sich anderswo gebildet und frei jeder Vergiftung und Konventionen war, die dem iberischen Anarchismus so eigen waren.

Ab der Räumung des CSA in Gijón war der Bruch unumkehrbar. Die libertäre Bewegung in Großbuchstaben verlor in einigen Monaten das Monopol des Anarchismus, welches sie so eifersüchtig zwei Jahrzehnte lang verteidigt hatte. Ende 1998 hat es zwei, klar definierte Seiten gegeben. Die Eine, die des offiziellen Anarchismus, welche mit ihrer ganzen doktrinären Trägheit in der Defensive war. Die Andere, die eines viel radikalisierteren Anarchismus, welche sich auf einen Schlag aus ihrer Linken kristallisiert hatte und im Moment, als gemeinsamen Nenner, nur ihre Ablehnung des Vorherigen und die Unterstützung der Gefangen in Córdoba hatte.

Die organisatorischen Krisen sind treue Gefährt*innen der historischen Weggabelungen. Der spanische Anarchismus – der auf viele Arten glänzte, aber niemals auf jene der Theorie – hat immer versucht diese mit einer Flucht nach vorne, durch den Ausweg des Aktivismus, zu lösen. Mit diesen Vorgeschichten war es rückblickend betrachtet nicht verwunderlich, dass sich das, was als „Insurrektionalismus“ bezeichnet wurde, im Eiltempo verbreitete. Diese neuartige anarchistische Strömung und ihre Kritik an der Bürokratisierung, dem Dogmatismus und der Unbeweglichkeit des offiziellen Anarchismus, hat in den darauffolgenden Jahren eine sehr starke Anziehungskraft auf die jüngeren Militanten der CNT ausgeübt. Diese haben in einem authentischen Generationsexodus, von dem keine Gewerkschaft verschont blieb, die CNT verlassen. Die aufständischen Positionen übten gleichermaßen eine Anziehungskraft auf die Gefährt*innen aus den Kreisen des jugendlichen Antagonismus aus. Die Bedeutung dieser verschiedenen Ursprünge wird in der Bildung differenzierter „informeller“ Kreise spürbar werden. Diese werden in den folgenden Jahren gemeinsam agieren, aber sich nicht durchmischen.

II. Die Rolle des Insurrektionalismu

1. Das Einfallen des Insurrektionalismus

In ihren Briefen an den Llar, stellten die gefangenen Gefährten des Banküberfalles in Córdoba ihre Positionen denen der, in demselben Bulletin schreibenden, CNT Mitglieder gegenüber. Diese Positionen waren die des aufständischen Anarchismus23. Sie erzeugten über diese Seiten zum ersten Mal ein Echo in Spanien. Anfang 1997 wurde in Barcelona auch Alfredo Bonanos Pamphlet Die anarchistische Spannung veröffentlicht. Dies war praktisch alles, was die Verteidiger und Verleumder des Insurrektionalismus über dieses Thema in Spanien wissen konnten. Das und das praktische Beispiel der Gefangenen aus Córdoba, erzeugte von Anfang an ein Missverständnis. Denn nun glaubten viele, dass die aufständischen Ideen sich auf Enteignungen beschränkten, oder dass Überfälle die aufständische Praxis par excellence waren.

Jedoch war es nicht das erste Mal, dass auf der Halbinsel über Insurrektionalismus gesprochen wurde. Kurios erscheint uns, dass sogar die Zeitung cnt gelegentlich Artikel von Bonanno veröffentlicht hatte. Diese verursachten unter den Leser*innen Verwirrung, wenn nicht sogar einen Skandal. Die nicht mehr existierende Gruppe „Revolte“ aus Cornellà24, hatte jahrelang Informationen über den revolutionären Anarchismus in Italien verbreitet. In ihrem Bulletin wurden Informationen über den Verlauf der „Marini-Inszenierung25“ sowie Ökosabotagen und Antientwicklungskämpfe, die sich auf den TAV und AKWs konzentrierten, und Kommuniqués von inhaftierten anarchistischen Gefährten wie Marco Camenisch veröffentlicht. Aber bei der Priorisierung der fragmentierten Informationen über theoretische Texte, blieb der Hintergrund der Fragen im Großen und Ganzen verschwommen.

Die selbe Gruppe „Revolte“ verbreitete 1996 den Aufruf für das Gründungstreffen der Insurrektionalistischen Antiautoritären Internationale26 (IAI) im Land. An diesem beteiligten sich Gefährt*innen aus verschiedenen Teilen des Landes. Der Aufruf erreichte z.B. auch die FIJL, als sie noch die CNT als ihren Mittelpunkt hatte. In diesem Moment – kurz vor den Ereignissen in Córdoba – nahm die Jugendföderation die Vorschläge mit einem gewissen Misstrauen, vor allem wegen fehlender Informationen, auf. Obwohl das Interesse an der Einladung zunahm, um mitten in einer Debatte, über die Gründung einer internationalen anarchistischen Jugend, Fuß zu fassen (welche jedoch nicht zu Stande kam), gewann in dem Moment die „Angst vor dem Unbekannten“ die Oberhand. Wir bedauern dies, weil die Kontaktaufnahme mit der italienischen Erfahrung in Spanien ein besseres Verständnis – im guten wie im schlechten Sinne – des aufständischen Diskurses begünstigt hätte. Die Verbreitung derselben Ideen wäre, ohne von den Geschehnissen in Córdoba belastet zu sein, möglich gewesen.

Keiner dieser Versuche trug Früchte, weil die iberischen Bedingungen es nicht erlaubten. Der jugendliche Antagonismus war noch nicht ausgereift. Auch der offizielle Anarchismus war noch nicht so weit verdorben,dass ein Bruch der Fronten durch die ganze libertäre Jugend stattfand. Erst als dieser Moment erreicht war, erlangte der aufständische Diskurs einen realen Durchbruch. Doch dieser Durchbruch war im Großen und Ganzen durch die spezifischen iberischen Bedingungen geprägt, die zu einer langen Liste an Missverständnissen, auf die wir später eingehen werden, führten.

An diesen Punkt angekommen müssen wir einige Dinge präzisieren. Das, was wir als „Epidemie der Wut“ bezeichnen wollen, war ein kollektiver, aber weder einheitlicher, noch koordinierter Versuch, die Ohnmacht und die Lähmung der politischen Werkzeuge, die in Spanien „antikapitalistisch“ und „revolutionär“ zu sein beabsichtigten, zu überwinden. Wenn wir dem Ganzen einen dermaßen lyrischen Namen gegeben haben, ging es nicht darum, das ganze Geschehen mit dem Teil zu verwechseln – sicherlich wichtig – der dem „Insurrektionalismus“ nahesteht. Diese Variante des Anarchismus, zwischen Italien und Griechenland entwickelt und flott gemacht, hatte herausragende Einflüsse im Kontext der Epidemie und war zum Teil bestimmend für ihre Entwicklung. Aber dies war nicht die einzige Komponente und reicht nicht aus, um alles zu erklären. Die Epidemie der Wut wurde auf der Halbinsel durch Dynamiken erzeugt, die wir im ersten Teil dieses Textes zu erklären versuchten. Der unkritische Import des Insurrektionalismus war nicht die Ursache dieser Dynamiken, sondern ihre Folge.

Der Insurrektionalismus war nicht die einzige neuartige Strömung27, die durch den offenen Bruch rund um die Geschehnisse von Córdoba in in das libertäre Lager eindrang. Jetzt, da das ideologische Monopol, welches der offizielle Anarchismus in diesem Lager ausübte, gebrochen war, begannen durch dieselben Risse, diverse Positionen und Ideen zu sickern. Einige, wie der Primitivismus, erwiesen sich als nicht mehr als kurzlebige ideologische Moden. Andere, wie die antiindustrielle Kritik, haben größere theoretische Standfestigkeit bewiesen. Es wurden alte marxistische Strömungen, wie der Rätekommunismus, ausgegraben, und mit allem Idealismus der Welt sollte geglaubt werden, sie wären von dringendster Aktualität. Auch wenn es nicht so war, diente ihre Verbreitung mindestens, um den uralten Antikommunismus des spanischen Anarchismus zu schwächen: wir entdeckten jetzt einen Marx der uns viel näher stand, der weder der Patriarch des scholastischen Leninismus, noch der gezeichnete Satan des Anarchismus war. In diesem Sinne entfalteten die situationistischen Theorien, die durch die Arbeit von Literatura Gris das erste Mal komplett auf spanisch zugänglich waren, eine starke Auswirkung auf uns.

Man kann zusammenfassend sagen, dass ab dem Jahre 1998, für mindestens fünf Jahre, viele Ideen in einem schwindelerregenden Rhythmus in Betracht gezogen worden. Wir schon erwähnt, fand in dieser Zeit eine allgemeine Veränderung nicht nur des Anarchismus, sondern aller Bewegungen, die jenseits der institutionalisierten Linken standen, statt. Diese Transformation öffnete Räume für Debatten, wo es vorher gar keine gab und erzwang die ständige Aktualisierung des allgemeinen Wissensstandes. Dies wurde durch eine „antagonistische“ verlegerische Explosion, wie sie seit den 70ern nicht mehr stattfand, begleitet. Ein charakteristisches Phänomen des Momentes – kurz vor dem Erscheinen des Internets – war die Verbreitung der fotokopierten Pamphlete und Broschüren. Diese dienten als Stütze von längeren und tieferen Texten, die in den üblichen Fanzines und Bulletins veröffentlicht wurden. Ohne die Verpflichtung, das Sprachrohr irgendeiner Gruppe oder Kollektives zu sein, waren Broschüren eine herausragendes Vehikel der Kommunikation. Aufgrund ihrer niedrigen Kosten und leichten Herstellung, dienten sie der enorm schnellen Verbreitung von Ideen.

So wurden die Erinnerungen an viele historische Momente, die Theorie und Praxis vieler Kämpfe sind, nachdem sie absichtlich von den Traditionen der spanischen extremen Linken vergessen, verdreht oder exorziert wurden, gerettet. Sie sind wichtige Lehren der Geschichte, die uns wissen ließen das wir nicht aus dem Nichts kamen. Andererseits, war durch den Faden der Aneignung der Geschichte von antiautoritären bewaffneten Erfahrungen – MIL, Comandos Autónomos, Rote Zora und vieler anderer – politische Gewalt kein tabuisiertes Thema, innerhalb der libertären Bewegung, mehr. Alles in allem kam es von einem absoluten Mangel an Materialien und Informationen, zu einem Überfluss von ihnen, was so einige Verdauungsprobleme verursachte. Die Epidemie der Wut ernährte sich auch von diesen, in ihr mehr oder weniger präsenten Themen, Lektüren und Ideen.

Das Thema dieses Artikels ist jedoch nicht der Insurrektionalismus an sich, sondern die Zusammenfassung und kritische Bilanz einer kollektiven Erfahrung. Sie zog sich über ein Jahrzehnt hinaus und es nahmen Menschen an ihr teil, die sich selbst nicht als aufständisch und oftmals nicht mal als Anarchist*innen bezeichneten. Wenn wir es für unbedingt notwendig halten die Beziehung dieser Erfahrung zu machen – es wäre übertrieben sie als „Bewegung“ zu bezeichnen – müssen wir sagen, dass all ihre Komponenten, sich um die hier behandelten zentralen Fragen drehten. Der Insurrektionalismus drängte nicht allen Antworten auf, wie jedes übliche Dogma es machen würde, aber er stellte die Fragen, auf die wir seit Jahren zu antworten versuchten. In diesem Sinne haben wir im ersten Teil dieses Artikels festgestellt, dass die aufständischen Ideen in diesem Moment „Treffpunkt und gemeinsamer Nenner“ waren.

Damit die Erzählung, die wir hier vornehmen, klarer wird, müssen wir einige relevante Aspekte des Insurrektionalismus angehen. Denn es ist notwendig aufzuzeigen, dass dieser weit entfernt von einer strukturierten Doktrin war, insbesondere da organisatorische Instanzen, die sich um seine „Reinheit“ kümmerten, nicht vorhanden waren. Dies macht seine kritische Analyse schwer. Nichts desto trotz werden wir sie anhand einiger Texte, die für uns repräsentativ sind, versuchen, ohne dass sich dieses Thema in ihnen erschöpft.

2. Ein avantgardistischer Individualismus?

Der Insurrektionalismus behauptete, dass der revolutionäre Angriff gegen das Kapital und den Staat hier und jetzt von selbst möglich war, unabhängig davon, ob die historischen Umstände die radikale Veränderung der Gesellschaft begünstigte oder nicht. Laut Bonanno, hatte das System ein solches Niveau an Komplexität erreicht, dass es unmöglich war, egal welche strategische Prognose zu machen28. Daher war es nur möglich, einen ständigen Angriff auf seine Flanken auszuüben, wo nach der Meinung der Revolutionäre am meisten Schaden anzurichten sei, oder Möglichkeiten für die Verbreitung des Kampfes existieren würden.

Wenn diese Herabsetzung der historischen und soziologischen Bedingungen durchgeführt wurden – mehr oder weniger offen, je nach dem aufständischen Theoretiker mit dem man sich auseinandersetzt – konnte das revolutionäre Subjekt und Protagonist des Angriffes nur der Anarchist selbst sein, das heißt, das kämpfende Individuum gegen das System welches es unterdrückt. Dieser „Rebell“ wird in der aufständischen Literatur mit verschiedenen Namen benannt, aber er konstituiert einen der theoretischen, zentralen und unveränderlichen Bezugspunkte.

So trägt der Insurrektionalismus in sich eine sehr starke individualistische Komponente. Im Gegensatz dazu, wurde darauf verzichtet ein kollektives Subjekt, außer bei vagen Andeutungen auf die „Unterdrückten“, „die Ausgebeuteten“ oder „die Marginalisierten“, klar zu benennen, welches für den Angriff gegen das System empfänglich wäre. Die spärliche Strukturierung der aufständischen Theorien, verbunden mit ihrer Unklarheit, öffnete eine weite Interpretation, um dieser oder jener soziologischen Figur die Mission zu geben, dem kapitalistischen Durcheinander ein Ende zu setzten. Zumindest sollte diese eine Konfrontation auf den Tod und ohne Absprachen vorantreiben. Im spanischen Falle gab es jene, die glaubten, dass diese Rolle den Gefangenen entsprach und es gab jene, die zu den alten Essenzen des revolutionären Proletariats zurück wollten. Einige kürzliche Entwicklungen, haben das auswechselbare Subjekt in den Ausgeschlossenen gefunden, die sich in der Peripherie der Metropole, vor allem nach den französischen Revolten von 2005, zusammen pferchen29. Nichts von dem ist ausreichend, um ohne Zweifel die individualistischen Grundlagen dieser Ideologie auszugleichen – von allen anderen komplett übernommen nicht mal um den kollektiven Kampf zu festigen, auch wenn die Versuche in diesem Sinne nicht fehlten.

Innerhalb der aufständischen Konzeption, war der Verzicht auf jede strategische Projektion und das Verständnis des sozialen Krieges, als eine strikt private Abrechnung, das, was der Aktion einen wesentlichen Wert verlieh. Allerdings teilt sich die aufständische Aktion in zwei Varianten auf, die von einigen Autoren der Innung30 perfekt differenziert wurde, auch wenn sie sie verschieden nannten. Wir differenzieren sie hier als den „diffusen Angriff“ und die „Radikalisierung der Kämpfe“. Beide dienten als Ersatzmittel der strategischen Perspektive, die der Insurrektionalismus freiwillig aufgegeben hatte. Der diffuse Angriff sollte eine Praxis der Sabotage werden, die sich von jedem Konflikt oder jeder konkreten Forderung löste. Da sie alle Bereiche des Lebens erreicht, bot die Herrschaft verschiedene wählbare Flächen, auf denen sie angegriffen werden konnte.

Die „Radikalisierung der Kämpfe“ hatte schon andere Konnotationen. Hier offenbarte der Insurrektionalismus einen Hintergrund, den wir nur als Avantgarde bezeichnen können. Um dies zu erklären, erlauben wir uns einige Texte zu zitieren, die wir wegen der Bedeutung, welche sie innerhalb der Kreise des aufständischen Denkens haben, auswählten:

„Jegliches spezifische Kampfziel enthält in sich, zum explodieren bereit, die Gewalt aller sozialen Beziehungen. Wie wir wissen, ist die Banalität ihres unmittelbaren Anlasses, die Visitenkarte der Revolten im Verlaufe der Geschichte.“

„Was könnte eine Gruppe von entschlossenen Gefährten in solchen Situationen tun? (…)“

„[…] ist es ziemlich klar, dass die Unterbrechung der sozialen Aktivität ein entscheidender Punkt bleibt. Was auch immer der Grund des aufständischen Konfliktes ist, die subversive Aktion muss auf eben diese Lähmung der Normalität abzielen. […] Die revolutionäre Praxis bliebe den Leuten stets aufgesetzt. […] Libertäre, die durch ihre Methoden (individuelle Autonomie, direkte Aktion, permanente Konfliktualität) danach drängen, können den Rahmen der Forderung übersteigen und alle sozialen Identitäten (Professor, Angestellter, Arbeiter, usw.) negieren.“

„Im Moment kann man nicht sagen, dass die Kapazität der Subversiven soziale Kämpfe (anti-militaristisch, gegen Umweltverschmutzung, usw.) zu lancieren, bemerkenswert ist. Es bleibt noch immer die andere Hypothese […], jene einer autonomen Intervention in die Kämpfe – oder in die mehr oder weniger breiten Revolten –, die spontan entstehen. […] Wenn man denkt, man müsse, während die Arbeitslosen vom Recht auf Arbeit sprechen, dies ebenso tun […] dann wird der mit Demonstranten gefüllte Platz der einzige Handlungsort sein.“ (Ai ferri corti, In offener Feindschaft)31

„ Eine Palette an konkreten Möglichkeiten für die Zerstörung der Macht zu öffnen, bedeutet die Spannung des individuellen Aufstandes mit den Momenten im Sozialen selbst, drüber hinaus von einem anarchistischen Handeln, sich mit Ausdrücken der Selbstbestimmung oder des Bruches mit der auferlegten Ordnung, zu verbinden. Diese Verbindung, schließt jede Instrumentalisierung und jede Avantgarde aus. Die Anarchist*innen haben nichts über die Revolte gegen die auferlegte Herrschaft zu lehren. Da die Verbindung zwischen der anarchistischen Spannung und den rebellischen sozialen Kräften stattfindet, sich als ein Reiz der Radikalität des Kampfes und der Rebellion materialisiert, werden Elemente der Selbstbestimmung verschärft und andere vertieft.32

„[…] wir werden Affinitätsgruppen aufbauen müssen, bestehend aus einer nicht sehr umfangreichen Anzahl Gefährt*innen […].“

„Die Affinitätsgruppen ihrerseits können zur Bildung von Basiskernen beitragen. Das Ziel von diesen Strukturen ist es, in den Teilbereichskämpfen die alten syndikalistischen Widerstandsorganisationen zu ersetzen […].“

„Jeder Basiskern wird meist, angetrieben durch die Aktion der insurrektionalistischen Anarchisten, gegründet, aber nicht nur von Anarchisten gebildet. In seiner versammlungsbasierenden Verwaltung müssen die Anarchisten ihre antreibende Aufgabe gegen die Ziele des Klassenfeindes maximal entwickeln. […]“

„Das Aktionsfeld der Affinitätsgruppen und der Basiskerne besteht aus den Massenkämpfen.“

„Diese Kämpfe sind fast immer Teilbereichskämpfe, die keinen direkten und unmittelbaren zerstörerischen Charakter haben, sondern sich oft als schlichte Forderungen präsentieren, während sie zum Ziel haben, mehr Kräfte aufzusammeln, um den Kampf gegen andere Ziele besser entwickeln zu können. .“ (Alfredo Bonanno)33

All diese Aussagen – und viele andere die zitiert werden könnten – teilen einen gemeinsamen Charakterzug: die absolute Verachtung der Autonomie der sozialen Kämpfe, der Interessen und der unmittelbaren Notwendigkeiten der Menschen die sie vorantreiben, sowie den offenkundigen parasitären Willen, diese Kämpfe als Plattform für die eigene Ideologie zu benutzten. Denn so wie es voller Zynismus inIn Offener Feindschaft ausgedrückt wird, „kann man im Moment nicht sagen, dass die Kapazität der Subversiven, soziale Kämpfe […] zu lancieren bemerkenswert ist.“ Daher muss man sich auf jene Kämpfe werfen, die „spontan“ außerhalb der eingeengten subversiven Kreise entstehen. Um hier nicht ewig in die Tiefe zu gehen, lassen wir den Lesenden die Aufgabe die Bedeutungen und Auswirkungen dieser Positionen zu entwickeln.

Zwischen dem „diffusen Angriff“ und der „Radikalisierung der Kämpfe“ eingezwängt, betrachtete der Insurrektionalismus den Weg nicht, der von größerem Interesse gewesen wäre: den einer Praxis der Sabotage die von strategischen Überlegungen geleitet und von kollektiven Interessen ausgegangen wäre, die nicht unbedingt durch die vorherige Existenz sozialer Bewegung bedingt gewesen wäre, aber sich in allen Fällen ihrem Entstehen bewusst ist, sowie respektvoll mit ihnen und ihren Umständen umgeht.

Wir haben kurz die Antworten überprüft, die der Insurrektionalismus auf die Fragen der revolutionären Praxis und des Subjektes, welches diese vorantreiben würde, gab. Wir können dieses kurze Resümee nicht beenden – welches das Thema sowieso nicht ausschöpft – ohne den Blick auf ein weiteres Schlüsselproblem zu lenken: dass der Organisation. Erstens, weil die aufständischen Ideen diesbezüglich ein großes Interesses für diese Strömung und die Originalität ihrer Aspekte erweckten. Zweitens, weil im iberischen Fall die aufständische Kritik an den traditionellen Formen der Organisation und ihre positiven Vorschläge auf diesem Feld, sehr großen Eindruck auf unsere Generation von Militanten gemacht haben. In Wirklichkeit war es dies, was in dem Moment am meisten die Verbreitung dieses Diskurses ermöglicht hat.

Der organisatorische Vorschlag des Insurrektionalismus dreht sich um die sogenannte „informelle Organisation“. Nach ihren theoretischen Ansätzen, strebt die informelle Organisation weder danach auf Dauer zu bestehen, noch irgendeine Art von Hegemonie zu erlangen. Aufgrund dessen konnte sie auf Abkürzungen und die üblichen rekrutierenden Begleitumstände verzichten. Die informelle Organisation befand sich – um einen jetzigen Modeausdruck zu verwenden – „im permanentem Aufbau“. Sie keime aus den Beziehungen der Affinität, des Vertrauens und der gegenseitigen Kenntnis unter den Gefährt*innen. Sie formte sich um genaue Aufgaben und Projekte, Momente der Übereinstimmung oder um konkrete Situationen des Konfliktes. In ihr fand die Kommunikation und die Einigung in einer fließenden Art und nicht mittels Kongressen, Delegationen und regelmäßigen Treffen etc., statt. Die treibende Idee war, die vollständige Autonomie jeder Gruppe oder jedes Individuums zu bewahren. Diese sollte dem Willen zur Vereinigung nicht geopfert werden. Bonanno selber nannte dies die „Organisation der Synthese“.

Über das bisher Gesagte kann man diskutieren. Wir wollen aber auch eine Reihe positiver Auswirkungen, welche diese Ansätze hatten, hervorheben. Als Erstes wurden mit einem Schlag die Organisationsarten entweiht. Nicht nur die konkreten Organisationsformen des iberischen Anarchismus, sondern auch die Organisationsformen im Allgemeinen und Abstrakten. Es war wieder möglich Organisationen als ein Mittel zu verstehen und nicht als einen Zweck für sich selbst. Also als etwas, was sich im Takt der geschichtlichen Veränderungen und der Bedingungen des Kampfes, entwickeln und – gegebenenfalls – auflösen konnte und musste. Die qualitativen Aspekte wurden über die quantitativen gestellt. Für all dies, wurde das Problem der Organisation freigelegt und eine Flexibilität geschaffen, die innerhalb des iberischen Anarchismus komplett ausgestorben war. Die Türen für ein kreatives Experimentieren mit den Organisationsformen öffneten sich.

Zweitens, gab es innerhalb der informellen Organisation keinen Platz für Militanz34. Um es anders zu sagen: es gab keinen Platz für die Entfremdung in Bezug auf die eigene Militanz. Die informelle Organisation zwang den Militanten nicht den Druck einer Reihe von Rhythmen, die von höheren Instanzen der Koordination entschieden wurden, auf. Keiner musste sich wie ein Wurm fühlen, welcher der „Größe“ der Organisation und ihrer mystischen Geschichte gewachsen sein musste. Sie erlaubte einem Alles, in jedem Moment, in Frage stellen zu können. Die informelle Organisation verhinderte, alles in allem, die Erscheinung eines Fetischismus der Organisation.

Als Letztes griffen die Ansätze der informellen Organisation eine Frage auf, die innerhalb unserer Kreise komplett umgegangen wurde. Nämlich wie die Qualität der menschlichen Beziehungen im Schoß der Organisation war. Es war nicht mehr das Besitzen eines Mitgliedsausweises oder die Unterwerfung unter einige „Prinzipien, Taktiken und Ziele“ was uns mit Personen, die wir in Wirklichkeit nicht kannten, zu „Gefährt*innen“ machte. Für die informelle Organisation waren die Beziehungen der Solidarität und der Gefährt*innenschaft durch ein gegenseitiges direktes Kennen, aufgrund von Diskussionen und praktischer Zusammenarbeit bestimmt. Es waren daher konkrete Beziehungen und nicht abstrakte, wie es bis dahin in vielen Fällen gewesen war.

Es handelt sich, wie wir gesagt haben, um die positive Beteiligung, die potenziell innerhalb der Konzepte der informellen Organisation inbegriffen waren. Im Allgemeinen wurden sie nicht aus den aufständischen Texten entwickelt, sondern sie entsprangen aus den Erfahrungen jener, die in der Praxis diese Umsetzung der informellen Organisation – sehr oft sehr vage – versuchten.

3. Die iberische Abwandlung der aufständischen Ideen

Im Moment seines Sprungs auf die iberische Halbinsel, war der Insurrektionalismus ein Wirrwarr von Positionen. Er wurde kollektiv zwischen Italien und Griechenland geformt, wo es einen gewissen Konsens der Gefährt*innen jener Kreise gab. In Italien hatte sich der Diskurs innerhalb einer Reihe von Kämpfen eines Bereichs des italienischen Anarchismus, der die Erfahrungen mehrerer Generationen an Gefährt*innen gesammelt hatte, seit den 60ern Schritt für Schritt entwickelt. Ohne der Höhepunkt des revolutionären Denken zu sein, hatte der Insurrektionalismus in Wahrheit für die Italiener*innen einen Nuancenreichtum, von dem wir zu weit entfernt waren, um ihn zu erkennen und zu schätzen. Dies kommt daher, weil er aus einem theoretischen Wissen einer kürzlich gemachten Erfahrung wuchs, welche mehrere Referenzpunkte hatte, von denen wir einige erraten konnten, die hier aber nicht vorhanden waren. Den Italiener*innen war klar, dass diese Ideen Teil eines offenen Prozesses waren, der andauerte und dass sie daher der Debatte und deren Entwicklung verbunden waren. In Spanien jedoch, wurden ab dem ersten Moment diese Ideen im Block aufgenommen, wie ein geschlossener doktrinärer Körper, der nur noch in die Praxis umgesetzt werden musste: eine weitere Ideologie. Diese Art der Rezeption, welche sehr negative Konsequenzen mit sich brachte, wurde von zwei Faktoren bestimmt.

Der Erste davon entsprang folgendem Umstand: der Insurrektionalismus wurde nicht allmählich, durch einen Prozess der Debatte, gefiltert. Er „knallte“ auf eine bissige Polemik, die sich aus den Ereignissen in Córdoba herleitete. In ihr gab es wenig Platz für Nuancen und Abschätzungen/Abwägungen35. Der zweite Faktor war strukturell: der inhärente Dogmatismus in der spanischen libertären Bewegung, sei es in ihrer traditionalistischen oder jugendlichen Variante. Jede neuartige Idee wurde mit Misstrauen beäugt. Es gab nicht das geringste Bewusstsein der Notwendigkeit und des Wertes der Theorie. Dies war, aufgrund der antiintellektuellen Traditionen des iberischen Anarchismus, nicht überraschend. Dogmatische Starre und theoretische Armut gingen Hand in Hand. Sie waren Ursache und Wirkung der Abwesenheit einer Tradition von kritischen Debatten. Solche fanden keinen Platz, um sich zu entwickeln. Das Erste, das jeder Militante lernte, war die „Bewegung“ und die „Organisation“ als etwas Unerschütterliches, Unveränderliches, Ewiges und Unbestreitbares zu betrachten. Sogar in ihren sekundären Aspekten. Dieses Fehlen an Flexibilität des iberischen Anarchismus, sowie seine Unfähigkeit, neue Sichtweisen zu integrieren, bestimmte zum Teil die Gewalt des Bruches.

Wir alle trugen Teile dessen mehr oder weniger in uns. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Insurrektionalismus sofort auf eine Art Karikatur von sich selbst reduziert wurde. Dies war sehr nützlich um von Heute auf Morgen eine kollektive Identität aufzuziehen, die immer selbstbezogener wurde. Die Art die wir hatten, um sie anzunehmen, ist ein Anzeichen für die Beschränkungen des iberischen Anarchismus zu dieser Zeit, Beschränkungen von denen wir logischerweise die Träger und Verstärker waren. Bei so viel Verwirrung, nutzten die fürchterlichen Übersetzungen der italienischen Texte auch nicht wirklich viel (einige davon waren von sich aus sehr verworren). Genauso wenig half es, dass sie in einem völligen chronologischen Durcheinander ankamen. So wurde das Verständnis der Erfahrungen der Kämpfe, aus denen sie stammten, erschwert.

Zum Beginn unserer Kritik des iberischen Insurrektionalismus soll uns einer der wenigen erschienenen, lokalen, bemerkenswerten Beiträge reichen. Es handelt sich um den Text 31 aufständische Thesen. Fragen zur Organisation, welcher, unterschrieben vom Kollektiv Nichts, Anfang 2001 erschien. Dieser Text spielte eine Rolle in der Verbreitung der Epidemie der Wut, unter den, vom offiziellen Anarchismus enttäuschten, Militanten. Was wir jetzt angehen wollen, ist eher weniger, was darin gesagt wurde, sondern was vermieden wurde. Denn was vermieden wurde, war die Repression: die logische und voraussehbare Antwort des Staates auf die praktische Umsetzung von alldem was der Text in abstrakten Ausdrücken postulierte. Was vom Staat, wenn der „Angriff“ und die „kontinuierliche Konfrontation“ vorbei wären, zu erwarten war, wurde auf eine ritualisierte Art in einem Absatz von vier Sätzen innerhalb eines achtzehn seitigen Textes runtergerattert:

„Für die informelle Organisation besteht die Notwendigkeit sich mit materiellen Mitteln auszustatten, um die Repression zu bekämpfen. Die Solidarität mit den (von Repressalien Betroffenen) muss eine vorrangige Konstante sein, da sie die einzige Verteidigung der Revolutionäre ist. Die Solidarität mit den von Repressalien betroffenen Gefährt*innen kann nicht eine Pose oder eine gelegentliche Aktivität bleiben“ (These Nummer XX).

Und das war Alles. Dieses Vergessen, oder besser gesagt, diese schreckenerregende Naivität, die zu einer Zeit stattfand, in der schon mehrere heftige repressive Schläge stattgefunden hatten, war kein Fehler, der nur den Autoren der 31 Thesen unterlief. Diese waren eher generalisiert und dass es sich in diesem Texte spiegelte, war rein symptomatisch für den Grad kollektiver Bewusstlosigkeit: es wurde losgelegt, ohne vorheriges Nachdenken über die hypothetischen Ausmaße der Repression, die eintritt, sobald gewisse Ideen in die Praxis umgesetzt werden würden. Daraus leiteten sich unzählige Fahrlässigkeiten, kontinuierliche Fehler an Sicherheit und Diskretion, und schlampige und waghalsige Aktionen ab. Wo die Italiener*innen ihre „Marini-Inszenierung“ hatten, wobei mit einem einzigen beispielhaften repressiven Schlag versucht wurde, sie alle fertig zu machen, fand hier eine Reihe repressiver Schläge statt, auf die wir später eingehen werden. Die Geschichte der Epidemie der Wut kann wie eine Folge an Verhaftungen von Gefährt*innen, in der jede eine Etappe kennzeichnet, betrachtet werden. Die Repression, mit der nicht gerechnet wurde, entwickelte sich letztendlich zum entscheidenden Faktor dieses Prozesses.

Die 31 Thesen waren in der Realität nichts anderes als ein Luftschloss. Sie setzten alles auf die Erscheinung einer hypothetischen, äußerst radikalen „autonomen sozialen Bewegung“, die wir am Ende nirgendwo gesehen haben (außer eventuell im Knast). Zumindest drückten die 31 Thesen ihr Streben in Ausdrücken des kollektiven Kampfes aus, etwas was mit der Zeit immer seltener wurde.

Denn nach den Momenten des anfänglichen Enthusiasmus zeigte sich, dass die Verbreitung des Kampfes nicht so leicht fallen würde wie man dachte. Eine gewisse Frustration machte sich breit, als nach dem Höhepunkt von Genua und der Ausstrahlung von Carlos Giulianis Hinrichtung, der Tourismus der Antiglobalisierungsbewegung zerfiel und die moderaten Elemente darin es erreichten, den Schwarzen Block im Zaum zu halten. Das Spektakel der Revolte hatte nichts mehr zu bieten. Das Ende des Kampfzyklus der Knastkämpfe von 1999 bis 2002 hatte zu diesen Gefühl auch viel beigetragen. Ab diesen Moment wurde das „Individuum im Kampf“, der „soziale Rebell“ hervor geholt, der als rhetorische Figur, seit dem ersten Moment in geduckter Stellung stand und gerade auf der Bildfläche erschien. Dieser gewann zunehmend einen Protagonismus, welcher über den eingeschlafenen kollektiven Subjekten stand.

Wir wissen nicht ob es in Italien so war, aber in der spanischen Variante war der „Rebell“ das aufständische Ideal eines tragischen Helden. Sein Heldentum wohnte in der fortdauernden Anstrengung, sich von jeder systematischen Verpflichtung zu befreien. Seine Tragödie ging aus den direkten und praktischen Konsequenzen solcher Verpflichtungen und aus einem so ungleichen Kräfteverhältnisses, das keinen Platz für irgendwelche Hoffnungen bot, hervor. Das „System“ war ein zu schlagender Schatten. Das war der Vorwand, der die persönliche Odyssee des Individuums im Kampf in Gang setzte. Daher kamen so viele Schriften aus dieser Strömung, die bis heute voll sind, mit befehlenden Predigten für die Aktion, den gewaltsamen Bruch mit den alltäglichen Gewohnheiten, für die „Kohärenz“, für die Selbstüberwindung, um aus der Herde zu fliehen, die Angst zu besiegen, etc.

Dieses „Individuum im Kampf“, frei von strategischen Überlegungen und kollektiven Bezugspunkten, ist gezwungen, die Motivation für seine Rebellion in seinem eigenen Inneren zu suchen. So begann ein starkes existentialistisches Abdriften, was in vielen Texten und Pamphleten offensichtlich wahrgenommen werden kann. Insbesondere in jenen die das Wappen der Federación Ibérica de Juventudes Libertarias trugen. Die übliche tollwütige Rhetorik der Texte, Kommuniqués und Pamphlete begann, sich mit einer subjektiven Lyrik der übelsten Sorte zu füllen. Es wurde ohne Unterschied, jeder Autor mit einem verdammten Heiligenschein versehen und dies fast immer ohne Kenntnis der jeweiligen Publikation. Es wurde vor allem, das Allerschlechteste der Situationistischen Internationale bevorzugt. Gemeint ist der hedonistische Mystizismus von Raoul Vaneigem. Das Buch Afilando nuestras vidas, im Jahr 2003 von der FIJL herausgegeben, ist ein guter Beleg für diese geistige kollektive Verwirrung. Es beinhaltet eine Aneinanderreihung vieler individueller Verwirrungen. Der nächste logische Schritt war die Verteidigung des Nihilismus, der Irrationalität und sogar des Selbstmordes. Dies wurde durch Publikationen ausgedrückt, die immer unleserlicher und selbstbezogener waren.

Andererseits war es so, dass die ausgearbeiteten Texte des Insurrektionalismus, auch wenn sie vorsichtiger geworden waren und begannen zu nuancieren und zu betonen, dass die „Aktion“ nicht unbedingt eine gewalttätige oder illegale sein müsse, die Aktion an und für sich verteidigten. Dies führte direkt zu einer Fetischisierung der Gewalt, was in der Folge die illegale Aktion über alle anderen stellte. Dieser Fetischismus wurde in den Bildern verschiedener Bulletins, die voller Molotowcocktails und Handfeuerwaffen waren, deutlich. Es war ein trauriger Fetischismus, da das wirkliche ausgeübte Niveau an Gewalt niemals auf der Höhe der rhetorischen Aufrufe für eine kataklystische, maßlose und totale Gewalt, die Tabula rasa mit allem machen und alles kurz und klein hauen würde, waren.36

Als dann auf eine systematische Art, der „diffuse Angriff“ ausgeübt wurde, wurde ehrlich daran geglaubt, dass sich diese Aktionen von selbst erklären und dazu tendieren würden, sich immer mehr zu verbreiten. Es wurde geglaubt, dass die anonyme Masse in Wahrheit voll sei mit potenziellen Saboteuren, die die alltägliche Entfremdung satt hatten, die dem Beispiel folgen und es weiter treiben würden. Nichts von Alldem passierte. Der „diffuse Angriff“ verfiel fortschreitend, bestenfalls zu einen simplen Ausdruck der Wut. Zu desorientiertem Vandalismus, Riten von Gruppenidentität oder besoffenem Zeitvertrieb im schlimmsten Fall. Der Schaden war jedenfalls enorm. Dies belegen zahlreiche „Chronologien“ von Aktionen, die so lange auf verschiedenen Bulletins veröffentlicht wurden, bis irgendjemand dahinter kam, dass die Cops diese auch mit viel Interesse lasen. Das Einbinden von Militanten, die stark durch den Insurrektionalismus ideologisiert waren, in reale soziale Kämpfe war problematisch und in einigen Fällen sogar negativ. Das hatte mit der Verachtung dieser Militanten zu tun, die sie gegenüber jeder Art von Teilforderung hatten und mit dem verinnerlichten Avantgardismus zu der aufständischen Ideologie, welche weiter oben angeschnitten wurde. Die wichtigste Ausnahme dieser Regel waren die, im Jahr 1999 begonnen, Knastkämpfe, über die wir später reden werden.

Innerhalb dieser erbärmlichen spanischen Adaption des aufständischen Diskurses, wurde die Vorstellung der „informellen Organisation“ an irgendeinen Punkt, durch die der „organisierten Informalität“ ersetzt, was die Wörter bedeutend verdrehte und Nomen und Adjektive vertauschte. Der Schwerpunkt verlagerte sich von, in einer Organisation zu sein, auf, in der Informalität zu sein, mit all den leicht vorstellbaren Konsequenzen. Von der Organisation zu reden wurde immer schwieriger. Wir glauben, dass die Konditionierung vieler Militanter dadurch beeinflusst wurde, dass sie mit dem Erwähnen der CNT, nicht als eine Organisation, sondern als Die Organisation aufgewachsen sind. Wörter sind wichtig, und nach dem Bruch war in vielen Kreisen der Ekel, zu den Ritualen und Mythen des offiziellen Anarchismus so groß, dass dies auf die Idee der Organisation selbst überging. Dazu wurden andere Elemente, wie die der Kommunikation, Selbstlosigkeit, Verpflichtung, Verantwortung, Anstrengung und Arbeit, um den freiwillig ausgesuchten Zielen nachzugehen, abgewertet. In Alldem spielte das existentialistische Abdriften, welches wir schon erwähnt haben, seine Rolle. Vor allem im Diskurs der „Freude“ – dem zigsten Schinken von Vaneigem – wonach Sachen aus Freude gemacht wurden, oder sie wurden gar nicht gemacht, driftete die Kritik der Entfremdung der Militanz ab. Die anti-organisatorischen Diskurse landeten letztendlich in bereits übel zugerichteten Netzwerken und beschleunigten die Atomisierung und die Isolation.

Die „Informalität“ dehnte sich außerdem auf das alltägliche Leben aus. Fliehend aus der Arbeitsausbeutung und allgemeiner aus der, vom System in die Weide getriebene, „Herde“, zerfiel man in Lebensformen, die extrem prekär und stammesähnlich waren und die später dementsprechend verteidigt wurden. So ging man von der Kritik des Prekären, zu der Verherrlichung des Prekären über. All dies wurde von dem entsprechenden ästhetischen Zwängen begleitet, wodurch die „Informalität“ sich immer deutlicher in geschlossene Kreise, die immer isolierter und enger waren, entwickelte.

Im Allgemeinen hatte jede Abhandlung über den Insurrektionalismus, eine groteske Übersetzung auf dem iberischen Boden. Zumindest ist dies die kollektive Wahrnehmung, die geblieben ist. Viele Gefährt*innen erklären dieses Phänomen mit einer kuriosen Bezeichnung: „die falsch verstandene Informalität“. Diese Bezeichnung war erfolgreich, ohne das jemals darüber reflektiert wurde. Sie würde aber bedeuten, dass eine „verstandene Informalität“ existierte, die ungeachtet dessen, niemals von irgendwem präzise definiert wurde oder in der Praxis umgesetzt und sofort verallgemeinert wurde, auch wenn es dafür viel Zeit gab. Doch es gibt keine „Informalität“ die gilt, weder verstandene noch unverstandene: diese Vorstellung wurde geprägt, um aus der anderen „Organisation“ zu fliehen. Andersherum, wenn die Dinge „falsch verstanden“ wurden, bedeutet dies, dass das Problem in uns und unseren Bedingungen lag und nicht in den, bis heute aus diesem Aspekt unkritisierbaren, aufständischen Ideen, wie sie aus Italien kamen. Im Gegensatz dazu denken wir, dass ein wichtiger Teil der späteren Ausrutscher, in der Schwäche der theoretischen Ansätze enthalten waren: die Unfähigkeit zur Analyse der Realität in der wir uns bewegten, wenn nicht sogar die Verachtung derselben. In ihrer individualistischen Wurzel, in ihrem schlecht verborgenen Avantgardismus, in ihrer willentlichen Unklarheit, in ihrer fehlenden Artikulationund Genauigkeit. Dass im italienischen Kontext diese Ideen – genauso idealisiert – mehr Auswirkungen hatten, liegt genau daran: am Kontext. Ein reicher Kontext, viel breiter, mit Generationskontinuitäten, die hier gefehlt haben, mit einer größeren Verankerung der Kämpfe, den Erfahrungen, etc. Diese Ideen nützten nicht viel im Abstrakten, in der „reinen Darstellung“. Aber genauso haben wir sie angenommen. Komplett von den Erfahrungen, die ihnen so viel Sinn gegeben haben, entbunden.

Nun gut, wir werden nicht zulassen, dass alles auf dem Scheiterhaufen endet. Die aufständischen Ideen spielten eine positive Rolle, und wir werden nicht müde dies zu sagen. Jene, die sie damals umarmten und verbreiteten lagen nicht falsch: sie brachen viele Blockaden, die uns erstickten und heizten die Situation um den eingeschlafenen offiziellen Anarchismus auf. Das Falsche wäre, auf Positionen, die in der Praxis erschöpft worden sind und die von sich aus nichts mehr geben, zu beharren. Und vor Allem, drückte der Insurrektionalismus gewisse Wahrheiten aus, die uns heutzutage als Fortschritte erscheinen, hinter die man nicht mehr zurückfallen kann. Fortschritte, die, für sich alleine genommen, nicht weitgehend genug, aber notwendig sind, um andere Dinge aufzubauen. Unter anderem haben wir bereits das dynamische Verständnis der Organisation und der Zurückweisung der militanten Entfremdung erwähnt. Wir wollen jetzt noch die Idee beitragen, dass unter den jetzigen Bedingungen eine antikapitalistische und subversive Praxis nicht auf das Warten auf die „Massen“ beharren kann. Weder kann man sich auf die Unterstützung breiter Bereiche der Bevölkerung, noch auf ihre Zukunftsperspektiven verlassen.

Publicación Resquicios, Nummer 4 und 5, 2007-08.

 

1A.d.Ü., In den Künsten ist Maximalismus, eine Reaktion gegen Minimalismus, eine Ästhetik des Überflusses und der Redundanz. Die Philosophie lässt sich so zusammenfassen, wie „mehr ist mehr“, im Gegensatz zum minimalistischen Motto „weniger ist mehr“. Im politischen ist der Maximalismus die Verhaltensweise der teilnehmenden Person für extreme Ergebnisse jeglicher Aspiration. Der Maximalismus war auch eine Strömung in der anarchistischen Bewegung in Russland bis zur russischen Revolution von 1917.

2Anm. d. Verf., nach einer internen realisierten Statistik, nach dem VIII. Kongress

3A.d.Ü., die FIJL war eine im Jahr 1932, in Madrid, gegründete anarchistische Jugendorganisation. Sie wurde 2003 von ihren Mitgliedern selbst aufgelöst. Hier findet man auf spanisch die Auflösungserklärung. Wurde 2007 von neuen Personen neu gegründet.

4A.d.Ü., im spanischen Staat bezeichnet man als „Doppelmilitanz“ die Zugehörigkeit an zwei verschiedenen Gruppen oder Organisationen.

5A.d.Ü., „Desföderation“ ist der förmliche Begriff für den Rauswurf einer Ortsgruppe aus einer Föderation, oder im Fall der CNT, einer Konföderation.

6A.d.Ü., Namen der Allgemeinen Gewerkschaft innerhalb der CNT.

7A.d.Ü., als „unverantwortlich“ wurde die Aktion einer Gruppe von jungen Anarchist*innen, seitens der alten Garde der CNT, bezeichnet.

8A.d.Ü., Zitat der damaligen Geschehnissen: „Ohne Zweifel, am meisten wurde über die Aktion gesprochen die am 5. Dezember 1996 in Madrid stattfand. Hunderte von Menschen, die meisten Mitglieder der CNT, machten eine Kundgebung vom dem Sozialen- und Wirtschaftszentrum (CES). Ein Ort wo Arbeitgeber, UGT und CCOO die jährliche Niederlage der Arbeiter*innenklasse zustimmten. Über hundert Mitglieder der CNT entschieden sich das Gebäude zu stürmen um es symbolisch zu besetzten. Der damaliger Arbeitsminister, damals war es Javier Arenas (PP), wurde aufgefordert ein Treffen zu machen, um das Thema der alten Räumlichkeiten der CNT zu behandeln, auf die sie seit 20 Jahre wartete (A.d.Ü., 1939 konfiszierte der spanische Staat unter Franco alle Räumlichkeiten der CNT, es handelt sich um hunderte von Objekten im ganzen Land, die meisten wurden der CNT nie zurück gegeben). Die Verweigerung seitens des Ministeriums war klar und schickte die Riotbullen rein um das Gebäude von Besetzter*innen schleunigst zu räumen. Dies passierte dann auch und mehrere Personen wurden festgenommen. Die Bullen zerstörten einiges im Gebäude, was später den Mitgliedern der CNT in die Schuhe geschoben wurde.

9Anm. d. Verf., wir werden nur einige zitieren: Vereinbarungen über die Beschlüsse die vor den Abstimmungen „rauskommen müssen“; Bildung von Geistergewerkschaften (ohne die Mindestanzahl an Mitgliedern) oder die Übertreibung an Mitgliedern um an die Plenarsitzungen und Kongressen, mit hoher Stimmzahl teilnehmen zu können; bürokratische Netzwerke die per Telefonschlag funktionierten; Belagerung der Komitees mit der nachfolgenden Kontrolle der Informationsflüsse; Verwendung systematischer Verleumdung gegen die üblichen Dissident*innen und vor allem mit der Beschuldigung des „Infiltrierten“ und ein langes et cetera. Eins der Dogmen der CNT-Ideologie ist die der Struktur, die perfekt horizontal und demokratisch sei und dass es keine Hierarchien geben würde. Dieses Dogma des Glaubens ändert an sich nicht die Realität der Tatsachen: dass aus den Komitees eine relative Kontrolle über die Organisation genossen wird; dass sich eine Körperschaft an „Expert*innen“ gebildet hat, die sich in der Regel in die Plena und Treffen einfinden und de facto die Organisation regieren. Da nicht mal die Annahme einer möglichen „Hierarchie“ erlaubt wird, wird diese getarnt, sie wird informell und daher schwieriger zu kontrollieren, wie die der „autoritären“ Organisationen, die normalerweise auf formelle Mechanismen zählen können um die Macht der Leitung einzudämmen.

10Als „Schwesterorganisation“, nahm die CNT die FIJL in ihre Räumlichkeiten auf.

11A.d.Ü., auf Spanisch, „Distribuidora“, was Vertrieb heißt, dessen Projekte waren die Infotische mit Propaganda.

12A.d.Ü., Movimiento Comunista (Kommunistische Bewegung), war eine marxistisch-leninistische Partei, die ihre Ursprünge bei einem Ausschluss bei der VI. Vollversammlung von Euskadi Ta Askatasuna im Jahr 1966 hatten. Sie wurden als spanische Nationalist*innen bezeichnet, weil sie eine kritische Haltung zum baskischen Nationalismus hatten.

13A.d.Ü., Liga Comunista Revolucionaria (Revolutionäre Kommunistische Liga), war eine trotzkistische Gruppe die 1971 gegründet wurde.

14A.d.Ü., 1992 fanden in Barcelona die Olympische Spiele statt und das war der Beginn einer Generalüberholung der Stadt, in der sie zu dem Tourismuszentrum geworden ist, welche sie heutzutage ist.

15A.d.Ü., https://www.youtube.com/watch?v=llUc5k2NVrk

16A.d.Ü., https://www.youtube.com/watch?v=gVnSBJYZS8Q

17A.d.Ü., auf Spanisch „usurpación“ bezeichnet jede mögliche Art von widerrechtlicher Entnahme Privateigentums.

18A.d.Ü., „Mono Blanco“ heißt weißer Blaumann/Overall. Ist ein Wortspiel im Bezug auf die „Tutti Bianche“.

19A.d.Ü., auf italienisch „Proletari Armati per il Comunismo“, bedeutet „Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus, war eine bewaffnete Gruppe in Italien die in den 70ern und 80ern aktiv war.

20A.d.Ü., von vorne herein

21A.d.Ü., das Eigentum an einer Sache verleiht dem Eigentümer im Wesentlichen drei Rechte: Nutzung (lateinisch usus), Fruchtziehung (lat. fructus) und Verfügung (lat. abusus). Durch die Begründung des Nießbrauchs überträgt der Eigentümer einer Sache das Recht zur Nutzung und zur Fruchtziehung an einen Dritten und behält nur das Verfügungsrecht für sich.

22A.d.Ü., hier handelt es sich um die Rückerstattung der Räumlichkeiten der CNT seitens der spanischen Regierung.

23Anm. d. Verf., derselbe Begriff „Insurrektionalismus/aufständischer Anarchismus ist problematisch, da viele diesen Begriff als eine spektakuläre Etikette, oder als eine neue Form des Abstempels ablehnten und andere diesen ohne weitere Schwierigkeiten annahmen. Um eine weitere Darstellung zu begünstigen, haben wir uns entschieden diesen Begriff ohne viele Komplexe zu verwenden.

24A.d.Ü., Cornellà ist eine Stadt bei Barcelona.

25Anm. d. Verf., die „Marini-Inszenierung“, die zwischen 1994 und 2004 entwickelt wurde, war die wichtigste richterlich angeordnete Bullenoperation, durch die in Italien versucht wurde den kämpferischen Teil der anarchistischen Bewegung zu zerstören. Der Name stammt vom Staatsanwalt Marini, der mittels eines spektakulären Terrorismus versuchte die Gefährt*innen mit härteren Strafen zu bestrafen. Sie waren einen solchen (Terrorismus) fremd und aufgrund dessen wurde eine gespenstische „terroristische Organisation“ erfunden, die hierarchisch und zentralistisch sein sollte, die mit dem Namen ORAI (Organizzazione Rivoluzionaria Anarchica Insurrezionalista/Insurrektionalistische Revolutionäre Anarchistische Organisation) getauft wurde. Über Alfredo Bonanno, z.B., fiel die Anklage der „Anführer“ dieser nicht existierenden Organisation zu sein. Das Resultat des Verfahrens war die Inhaftierung einiger Gefährt*innen, die bis heute im Knast sitzen. Abgesehen von einigen Broschüren, die seit 1997 erschienen sind, gibt es eine gute Sammlung an Texten auf spanisch über die Marini-Inszenierung, die im Buch „Ihr könnt uns nicht aufhalten, der revolutionäre anarchistische Kampf in Italien“ beim Verlag Klinamen/Conspiración im Jahr 2005 veröffentlicht worden.

26A.d.Ü., Insurrektionalistischen Antiautoritären Internationale, erhältlich bei Konterband Edition (Zürich)

27Anm. d. Verf., wenn auch für uns all dies eine unzweifelhafte „Erneuerung“ war, muss darauf hingewiesen werden dass der Insurrektionalismus nichts anderes tat, als viele alte Bestandteile der anarchistischen Tradition zusammenzubringen, die in der Vergangenheit anwesend waren. Im Fall des spanischen Anarchismus waren diese Bestandteile – der Individualismus, der Illegalismus, die Informalität – durch den historischen Elan ihrer syndikalistischen/gewerkschaftlichen Organisation auf eine sekundäre Rolle geschoben worden, wonach sie auch auf einer Art und Weise untergeordnet wurden. Aber nicht deswegen kann gesagt werden, dass sie komplett abwesend gewesen wären: sie wurden einfach durch die akademische und anarchistische Geschichtsschreibung umgangen.

28Anm. d. Verf., darüber kann in seinen Text „Neue Wenden des Kapitalismus“ (A.d.Ü., Konterband Editionen) nachgeschaut werden, der auch in der erwähnten Sammlung „Ihr könnt uns nicht aufhalten“ erscheint. Nichtsdestotrotz bringt Bonanno in seiner Einleitung für das Treffen der Insurrektionalistischen Antiautoritären Internationale, in Form einer strategischen Perspektive, die Idee ein, dass die Ländern um den Mittelmeer am anfälligsten für aufständische Ausbrüche wären. Eine Vorhersage, die nach zehn Jahren seit ihrer Formulierung, keine Anzeichen macht zuzutreffen.

29Anm. d. Verf., zwei repräsentative Texte für diese Tendenz sind „Die schlechten Zeiten werden brennen“, von der Surrealistischen Gruppe Madrid und anderen Kollektive und „Barbaren, ein unordentlicher Aufruhr von Crisso und Odoteo“, von der Biblioteca Social Hermanos Quero im Jahr 2006 veröffentlicht (A.d.Ü., auf Deutsch von Unruhen veröffentlicht). Beide waren Gegenstand einer kritischen Analyse in der ersten und zweiten Ausgabe von Resquicios.

30A.d.Ü., im spanischen steht tatsächlich Innung (Gremio), was auf eine Wortspielerei und Kritik eingeht, indem man solche Kreise als eine Innung bezeichnet, als Spezialist*innen, wo es doch im Anarchismus keine geben kann und darf.

31Anm. d. Verf., In offener Feindschaft mit dem Bestehenden, seinen Verteidigern und falschen Kritikern, Muturreko Burutazioak, 2001, Seiten 42-46. (A.d.Ü., auf deutsch im Internet zu finden bei https://anarchistischebibliothek.org)

32Anm. d. Verf.,der Anarchismus in der postindustriellen Gesellschaft: Insurrektionalismus, Informalität und anarchistische Projektualität anfang 2000, Llavors d´Anarquia, Seite 21.

33Anm. d. Verf., „Neue Wenden des Kapitalismus“, im zitierten Buch Ihr könnt uns nicht aufhalten mit aufgeführt, Seiten 33-35.

34A.d.Ü., außerhalb von Deutschland werden politisch engagierte und/oder organisierte Menschen als Militante bezeichnet. In gewissen anarchistischen, autonomen und kommunistischen Gruppen/Kreisen wird dieser Begriff auch negativ und kritisch verwendet. Als die Entfremdung und Verdinglichung des Subjektes gegenüber einer Organisation und Ideologie. Daher ist die Militanz, auf spanisch Militantismo, als die Ideologie des falschen Handelns, unter falschen Voraussetzungen, Bedingungen und Methoden, zu verstehen.

35A.d.Ü., im Originaltext steht Äquidistanz, was eine Eigenschaft von Punkten bzgl. zweier geometrischer Objekte ist, wie auch die Höhendifferenz zwischen zwei benachbarten Höhenlinien in einer Karte und ein gleicher ideologischer Abstand zu anderen politischen Akteuren, unter einigen…usw.usf. Wir haben dies umschrieben weil es doch ansonsten kein Schwein verstanden hätte.

36Anm. d. Verf., da wir den Text nicht mit Anführungszeichen vollstopfen wollen, machen wir die rituelle verpflichtende Erklärung: hier verwenden wir den Begriff von „Gewalt“ ohne irgendeiner moralisierenden Absicht, weder ein einbezogenes Urteil gegenüber denen, die sich entschieden haben den Kampf jenseits der legalen Bedingungen zu führen. Genauso wenig verurteilen wir a priori den Gebrauch von Gewalt gegenüber von Menschen und Sachen, im Kontext des sozialen Krieges. Aber wir verherrlichen sie auch nicht als ob diese eine innewohnende Tugend besitzen würde, die sich von jeder konkreten Situation entbinden könnte.

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