[Deutschland/Frankreich] G20: „Ich wähle die Flucht“ – Text von Loic vom Juni 2018 vor seiner Festnahme

Quelle: gefangenen info

Seit dem 18.12.2018 läuft der sog. „Elbchausseeprozeß“ in Hamburg gegen 4 Leute aus Frankfurt/Offenbach und Loïc aus Frankreich. 2 Leute aus Frankfurt/Offenbach waren nahezu 8 Monate in Untersuchungshaft, bevor die Haftbefehle im Februar diesen Jahres endlich aufgehoben wurden. Loïc aus Frankreich wurde im August 2018 aufgrund eines von Deutschland erwirkten internationalen Haftbefehls in Frankreich festgenommen, im Oktober 2018 nach Deutschland überführt und ist als einziger noch immer in Untersuchungshaft. Loïc muss raus aus dem Knast. Wir veröffenlichen einen längeren Text von ihm, den er vor seiner Festnahme im Juni 2018 verfasst hat. (Red.)

Artikel von Loïc (Juni 2018)

Nach Loïc, einem Aktivisten gegen das CigéoProjekt in Bure, wird wegen Anti-G20Aktionen in Hamburg im Jahr 2017 mit einem europäischen Haftbefehl gefahndet. Er verurteilt die verbissene Jagd auf ihn und erklärt, warum er versuchen wird, sich der Polizei zu entziehen.

„Am Dienstag, den 29. Mai, als mein Vater gerade zur Arbeit gehen will, streift die Polizei durch die Gasse. Einer von ihnen gibt an, dass sie seit 3:30 Uhr morgens dort sind und auf meine Rückkehr ins Familienhaus warten. Als meine Mutter abends um 19:30 Uhr nach Hause zurückkehrt, durchsuchen gerade 15 Polizisten den Dachboden. Es dauert 4 Stunden, bis 00:00 Uhr. Auch die deutsche Polizei ist anwesend. Sie nehmen USB-Sticks (einschließlich der meines Vaters, die er für die Arbeit benutzt), CDs, zwei externe Festplatten (einschließlich der meiner kleinen Schwester) mit, außerdem eine Spraydose, Kleidung (sie suchen lange Zeit vor allem nach einem Slip, ohne Erfolg), den alten Familien-Camcorder, einen Feuerwerkskörper, eine Eulenmaske aus dem Kampf in Bure etc. Auch Gendarmen aus Commercy sind anwesend und nutzen die Gelegenheit, ohne Angabe von Gründen eine Durchsuchung im Zusammenhang mit Bure durchzuführen, die berüchtigte Ermittlung „kriminelle Vereinigung“?

Hauptmotivation für den Einsatz von 15 Polizisten war die Demonstration gegen die G20 im vergangenen Jahr in Hamburg. Bei diesem Treffen der Staatschefs der Großmächte der Welt und der Zentralbankchefs ist die Hamburger Innenstadt trotz der 20.000 Polizisten aus ganz Deutschland außer Kontrolle geraten. Die Menschen sind auf der Straße, stehen der Polizei gegenüber und setzen Barrikaden in Brand. Der deutsche Finanzminister und die Frau des US-Präsidenten, Melania Trump sind blockiert und müssen ihre Termine absagen – für sie ist es unmöglich das G20 – Treffen aufzusuchen. Pastoren beherbergen Aktivist*innen aus der ganzen Welt in ihren Kirchen. Es ist unmöglich, dass kapitalistische Führer, die für die globale Erwärmung Verantwortlichen Frieden finden. Es wird geerntet, was gesät wurde. Um die Kontrolle über die Straße wiederzuerlangen, setzt die deutsche Polizei sogar eine Spezialeinheit ein, mit Sturmgewehren im Anschlag. Der Bundesminister der Justiz wird sagen: „Es wird in einer deutschen Großstadt keinen G20 mehr geben“ Sieg! Aber zu welchem Preis?
Propaganda, Kriminalisierung, öffentliche Fahndung… der geringste Akt einer Revolte wird massiv niedergeschlagen. Die Mächtigen kündigen massive Rache an. In vielen deutschen Zeitungen wird zur Denunziation aufgerufen, Fotos von unvermummten Demonstrant*innen, die Steine werfen, werden veröffentlicht. Es sind dieselben Zeitungen, die Leute loben, die Gegenstände auf die Polizei in Venezuela werfen. Die vermeintlich unparteiischen Medien beurteilen, was politisch korrekt ist und wollen so den Geist der Revolte konditionieren. Die Menschen folgen dem Aufruf der Hamburger Polizei zur Denunziation auf ihrer Website, eine Methode, die dunkle Erinnerungen wachruft. Die Sonderkommission eröffnete 3.343 Untersuchungen, für die sie mehr als 13 Terabyte Daten zu verarbeiten haben.

Am 29. Mai dieses Jahres ist es eine koordinierte Polizeiaktion von mehreren Dutzend Durchsuchungen in ganz Europa: Italien, Schweiz, Spanien und Frankreich. Allein in der Schweiz waren 150 Polizisten beteiligt. Das Argus-Sonderkommando beteiligte sich auch an der Operation, indem es eine private Wohnung stürmte und dort allen Bewohner*innen Handschellen anlegte und sie knebelte. Zur gleichen Zeit betraten etwa sechzig Polizisten das dortige Kulturzentrum, brachen alle Türen auf und blieben eine gute Stunde im Haus. Am Ende beschlagnahmten und transportierten sie zwei Anhänger voller verschiedener Gegenstände ab.

Ich war nicht im Haus meiner Eltern, sie hinterließen keine Vorladung… nichts, was mich aufforderte, zur Polizeiwache zu kommen. Nein, ich stünde direkt unter europäischem Haftbefehl – von der Polizei gesucht. Meine beiden Eltern werden als Zeugen auf der Polizeiwache vernommen. Aus dem Gedächtnis, da sie kein Protokoll erhielten, würde ich der Tatbeteiligung und auch der organisierten Bandenbildung beschuldigt – wegen schwerer Sachbeschädigung, Brandstiftung (10 + 5 Jahre Haft), Tragen einer Waffe der Kategorie A und Gewalt gegen einen Beamten angeklagt werden. Ich habe derzeit ohnehin schon etliche Verfahren, wovon die Hälfte völlig ungerechtfertigt ist. Bevor ich zur Polizei gehe, um mich zu verteidigen und diese erschütternden neuen Anschuldigungen verstehen kann, möchte ich in Verhandlungen treten. Ich fordere die Aufhebung der Hälfte der (bisherigen) Anklagen, die im Lichte der Wahrheit und auch nach rechtsstaatlichen Prinzipien rechtswidrig sind. In der Tat bin ich das Opfer von Verfolgung durch Justiz und Polizei. Dieser G20-Fall wird mein sechster Prozess sein.

Mein erster Prozess war wegen Mittäterschaft bei Computerangriffen von Anonymous gegen unnütze, wie auch durchgeboxte Großprojekte. Ich habe mich vor Gericht verteidigt und den Grund für meine Aktion erläutert. Ich bekam 4 Monate Bewährungsstrafe und zusammen mit den 2 anderen Angeklagten mussten wir 5.000 € Entschädigung zahlen.

Mein zweiter Prozess war ebenfalls wegen Beteiligung an Computerangriffen mit Anonymous gegen diese Großprojekte. Ich verteidigte mich erneut vor Gericht und erklärte, dass ich dafür bereits vor Gericht gestellt und verurteilt worden sei. Diesmal wurde ich vom Richter freigesprochen, dank des Prinzips „No Bis in Idem“ (man kann nicht zweimal wegen derselben Anschuldigung verurteilt werden), aber der Staatsanwalt beschließt, Berufung einzulegen. Diese zweite Anhörung ist für September 2018 geplant. (Ein unrechtmäßiger Prozess)
Mein dritter Prozess war wegen „Beleidigung und Rebellion“ und „Direkter Aufforderung zur Rebellion“ während der Demonstration vom 15. September 2016 gegen das neue Arbeitsrecht. Dank eines Videos, das die Nichtexistenz von „Beleidigung“ und die Lüge einer „direkten Aufforderung zur Rebellion“ beweist, die von mehreren Polizisten in die Welt gesetzt wurde, die sich bereitfanden, diese falschen Aussagen zu machen… „Wir sind zahlreicher als sie, man wird sich wiedersehen“. Diese beiden Anklagen sind ins Wasser gefallen, aber ich werde dennoch wegen „Rebellion“ bestraft.

Obwohl ich Opfer einer Festnahme wurde, für die es keine legale Grundlage gab, werde ich am 18. Mai zu einem Monat ohne Bewährung verurteilt, wenn ich die 600 Euro Strafe nicht innerhalb des Monats zahle. Ich soll außerdem noch 350 € an den Polizisten für „moralischen Schaden“ und die Gerichtskosten zahlen. Noch einmal von Vorne: Polizisten nehmen mich ohne ausreichenden Grund fest, man schlägt mir ins Gesicht, ich blute aus der Nase: Ich werde verurteilt, weil ich mit Armen und Beinen gestikuliert habe. Sehr gut. Lassen Sie uns die Rollen für einen Moment umkehren. Ich verberge die Wahrheit zusammen mit Komplizen: Ich würde der falschen Aussage in den Verhandlungen beschuldigt werden. Der Polizist gestikuliert, während ich ihm ins Gesicht schlage, seine Nase blutet, was zu X Tagen Arbeitsunfähigkeit führt: Ich würde wegen Körperverletzung gegen einen Vollstreckungsbeamten angeklagt werden. Wir leben in einem Land, in dem angeblich der Grundsatz der Gleichheit und Gerechtigkeit gilt. Wenn es eine echte Gerechtigkeit (Justiz) gäbe, würden diese Polizisten wegen Meineids und den Einsatz von Gewalt außerhalb des rechtlichen Rahmens verurteilt werden. Aber die polizeiliche Straffreiheit bezieht ihre Stärke aus dem Privileg der Uniform und ohne die Privilegien abzuschaffen, gibt es keine Gleichheit. (Unrechtmäßiger Prozess)
Meinen vierten Prozess bekam ich, weil wir den Zaun von ANDRA um sein Atommüllprojekt in Bure eingerissen hatten. Ich habe mich vor Gericht verteidigt und den Grund für diese gemeinschaftliche Aktion erläutert. Der Staatsanwalt beantragte 5 Monate Haft und 5 Monate Bewährungsstrafe, der Richter verhing 4 Monate Bewährungsstrafe. Der unzufriedene Staatsanwalt legte daraufhin Berufung ein. Ich habe das Datum noch nicht. Hier ist der vollständige Bericht mit den Dialogen in dem Prozess.

Mein fünfter Prozess basiert auf meinem vorherigen, wegen des ANDRA – Zauns. Der Einsatzleiter der Gendarmerie DUBOIS beschuldigte mich der Diffamierung, nachdem ich in einem Artikel im „Mediapart“ die von mir vor Gericht gehaltene Rede noch einmal niedergeschrieben hatte. Als ich von meiner Verhaftung erzähle, gebe ich an, dass dieser Einsatzleiter mich für einige lange Sekunden so gewürgt hatte, dass ich weder sprechen noch atmen konnte. Ein Arzt, der zu Beginn der Festnahme anwesend war, stellte eine 8 cm lange Schürfwunde am Hals fest. Um den Polizeiführer zur Wahrheit zu bringen, lasse ich in meinem ungesicherten Telefon- und E-Mail-Verkehr erscheinen, dass ich ein Video erhalten habe, in dem er beim Würgegriff zu sehen ist, und dass dieses Video zum Ende des Prozesses vorgelegt werden wird. Der Polizeiführer gibt während der Anhörung an (was er in seinen Anhörungsprotokollen nicht getan hatte), dass er meinen Kopf mit seinem Arm umgab, um mich zu schützen, damit er nicht auf den Boden trifft, den Würgegriff bestreitet er hingegen. Ich werde wegen „Ehrenbeleidigung“ und „Verleumdung“ zu 1400 Euro Strafe verurteilt und muss sogar die Gerichtskosten des Polizeiführers tragen. Warum habe ich keine Strafanzeige wegen des Würgegriffs erstattet? Weil es die Polizei ist, die mich angreift… und dann kann man eine Anzeige bei der Polizei selber erstatten. Weil ich das bereits einmal versucht habe, nach dem Faustschlag ins Gesicht während der Demonstration gegen das neue Arbeitsrecht. Letztlich war ich derjenige, der wegen „Rebellion“ verurteilt wurde. Genauso wurde mir auch an dem Tag, an dem ich gewürgt wurde, „Rebellion“ vorgeworfen, doch diesmal wurde ich am Tag des Prozesses von dieser Anklage freigesprochen. Doch ich gestikulierte mit Armen und Beinen, die meine Hände verbargen und (versuchte zu fliehen oder wäre am liebsten davongelaufen)! Dies ist das Ergebnis eines stillen Paktes, der natürlich unbewusst geschlossen wurde. Du sagst nichts über den Würgegriff, ich werde dich nicht wegen Rebellion verurteilen. Aber wenn du es wagst, ihn anzuprangern, diese organisierte Bande von Gendarmen, denen es gefällt die Wahrheit zu verdrehen, um die Ehre des Einsatzleiters zu retten… Hier findet ihr das Protokoll der Anhörung

Ohne eine Amnestie durch das Parlament (lt. Artikel 133-9 des Strafgesetzbuches) für die Verurteilungen dieser drei illegitimen Prozesse und die Zurücknahme der Revision des Staatsanwalts wegen des Schutzzauns von ANDRA werde ich nicht akzeptieren, auf das einzugehen, was mit viel juristischer Ignoranz gegen mich aufgefahren wird. Nachdem ich die Gnadenlosigkeit und die Lügen, die unter dem prunkvollen Vokabular der Verrechtlichung beschönigt wurden, durchlebt habe, führt mich mein Ekel dagegen heute dazu, ihre Ungerechtigkeit nicht weiter schmecken zu wollen. Ich wähle den Ausreißer (Ausbruch / Flucht). Mir wäre lieber, dieses Katz- und Mausspiel nicht spielen zu müssen. Aber was willst du, ich bin nur eine Maus… sei keine Katze mehr.

Ich möchte klarstellen, dass ich eine Amnestie oder Begnadigung ablehnen werde, wenn sie von Macron gewährt wird. Er ist aus zwei Gründen ein gewählter Karrierist. Der erste ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Fernsehzeit und Wahlergebnissen gibt, da Macron aus dem Finanzbereich kommt und die Mehrheit der Medien zu den Reichen gehört, ist die Medienpropaganda zu seinem Vorteil. Der zweite ist, dass er als Barriere für den Front National benutzt wurde. Eine traurige Sache, denn besser als der Stimmzettel aus Trotz ist der Pflasterstein von Paris. Wir können daraus gute Barrikaden bauen und er ist ein großartiges Wurfgeschoss, das uns erlaubt, mal keine Kompromisse einzugehen.

Zwischen dem Präsidenten oder dem Parlament entscheide ich mich daher für die am wenigsten schlechte Lösung, sagte einmal der (ehemalige) Umweltminister Nicolas Hulot und das trotz seiner früheren Verurteilung zu Bure „Cigéo, ich sag nein“. Im Gegensatz zu diesem würde mich die Amnestie nicht dazu bringen, mich abzuwenden. Ich werde weiterhin sagen, dass die Macht zerstört und nicht erobert werden soll. Und wenn ich eines Tages nicht mehr so denke, hört mir nicht mehr zu und lauft von mir weg. Außerdem erwartet nichts von mir, erwartet alles von euch selbst. Keine Vertreter, lasst uns unsere eigenen Meister sein.

Angesichts der derzeitigen Revolten und Streiks gegen die Politik der Macron-Regierung könnte eine Revolution, wenn sie stattfinden sollte, vielleicht, wie bereits historisch vorgekommen, die Amnestie der politischen Gefangenen und damit die Aufhebung der Strafen ermöglichen. Und wer weiß… die Turbulenzen könnten sich auch auf Deutschland ausweiten!

Gendarmen, Polizisten, Richter und Herrscher, man (er-) wartet (darauf), dass ihr eure repressive und dominante Position verlasst. Man (er-) wartet (darauf), dass ihr sie entweder selbst oder durch revolutionären Zwang verlässt. Nehmt dieses bescheidene Geschenk an, diese wenigen Worte, die ich in das Maul der Mächtigen werfe. Mögt ihr mich aufspüren oder die Vernunft haben, diese nutzlosen Prozesse aufzugeben, damit ich (auf euch zukommen kann. ?)

Möge die Helligkeit der Wahrheit über die Dunkelheit der Vorurteile siegen. Lasst den Aufstand kommen. Kraft den 6 noch inhaftierten Leuten in Deutschland nach den G20-Demonstrationen. Kraft für die Opfer von Polizeigewalt, so oft unsichtbar oder stigmatisiert.

Tod der staatlichen Propaganda
Tod der Unterdrückung
Tod den Privilegien
Es lebe die Freiheit
Es lebe die Anarchie

Anarchie ist kein Chaos, sondern, wie Proudhon sagte: „Ordnung ohne Macht“.

Nicht zu verpassen: Arte‘s Dokumentarfilm „A History of Anarchism“ von Tancredi Ramonet, um den Nebel um das Ideal herum zu verjagen. Lasst uns lesen, lasst uns unsere Träume wagen und morgen wird es schön sein.

PS: Am 16. Juni findet in Bar-le-Duc eine Demonstration gegen das Atommülldeponieprojekt in Bure statt. Angesichts des Haftbefehls werde ich nicht das Risiko eingehen, dorthin zu gehen. Aber du, vielleicht hast du dieses Glück (Chance), zu demonstrieren! Es gibt ein verrücktes Projekt zu begraben und einen Wald zu beschützen.

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