Quelle: indymedia
Antwort auf den Brief „An den Gefährten im Nirgendwo“
Liebe Freund*innen und Gefährt*innen,
Euer Brief hat mich erreicht. Über den Äther flogen die Nullen und Einsen wie von Zauberhand, um sich dann in Buchstaben zu dekodieren. Buchstaben, die Worte formten. Worte, die Sätze bildeten. Sätze die es vermochten, mir Tränen in die Augen zu schießen. Und obwohl mich eure Zeilen daran erinnern, wie sehr ihr mir alle fehlt und wie unersetzlich und einzigartig unsere Verbundenheit ist, waren es keine Tränen der Verzweiflung. Denn wie ihr so wundervoll geschrieben habt – „Wir sind noch da und du bist in unserem Leben und unseren Kämpfen präsent, mit deiner schönen und energischen Art, an die wir uns gerne erinnern“ – bin auch ich noch da, oder eher dort, und halte euch mit eurer unerschütterlichen Wärme und Solidarität so präsent wie nur möglich in meinem Innern. Dieses Präsent-Halten ist ein Schatz und wurde ein Teil von mir, ihr wurdet ein Teil von mir.
Mehr als 3 Jahre dauert meine Reise nun schon an und ich bin froh, dass ihr in meinem Herzen mit von der Partie seid. Deswegen waren es auch keine Tränen der Einsamkeit, als ich von euren Erlebnissen der letzten 3 Jahre gelesen habe. Ich war im Geiste nämlich bei euch, begleitete euch auf der Info-Tour, erzählte dort von meinen Erfahrungen, lauschte anderen Geschichten und genoss es, all die interessierten Menschen kennenzulernen. Ebenso Zuhause begleitete ich euch im Geiste, nahm an Diskussionen teil, führte vertraute Gespräche, übersetzte Gedanken in Handlungen, reflektierte diese im Nachhinein, lachte, weinte und schwieg mit euch zusammen.
Wenn ich an mein „altes Leben“ zurückdenke, bedauere ich eigentlich nur, nicht mehr Zeit mit euch verbracht zu haben. Viel zu schnell rannte ich in meinem eigenen Hamsterrad und viel zu langsam war ich darin, im richtigen Moment herauszuhüpfen, um mir für all die tollen und bereichernden Menschen Zeit einzuräumen, die ich um mich wusste. Ein Spagat, dessen ziehenden Schmerz wohl vielen Sozialrevolutionär*innen bekannt ist.
Wie gerne hätte ich all die Debatten miterlebt, die ihr ob der Frage, in die Klandestinität zu gehen, geführt habt. Wie gerne hätte ich mir all die Unklarheiten, Zweifel und wilden Vorstellungen diesbezüglich angehört, die in euren Köpfen herumschwirrten. Denn obwohl ich mich in der Klandestinität befinde, bin ich nicht wirklich schlauer als ihr, was dieses Thema angeht. Es ist ein Spiel des Ausprobierens, des Scheiterns und des erneuten Ausprobierens. Und dazwischen spült das Meer der Erfahrung immer mal wieder eine Erkenntnis an Land.
Ihr fragt euch bestimmt, wie sich mein jetziges Leben gestaltet, wie mein Alltag aussieht, ob ich neue Freund -und Komplizenschaften habe knüpfen können, ob ich neuen Projekten nachgehe, ob die Flucht meine scharfen Zähne abgestumpft hat und ob ich eigentlich selbst noch den Überblick habe, wer ich gerade bin. Letzteres ist immer wieder mal eine kleine Herausforderung für mein Gedächtnis, aber das hält mich fit im Kopf und ist demnach gar nicht mal so schlecht. Und wenn gar nichts mehr geht, berufe ich mich einfach auf das kleine gelbe Mädchen im Freizeitpark, die schreit „Ich bin die Eidechsenkönigin!“. Ihr seht, ich habe gerade das Bedürfnis mit euch zu lachen, denn dieses Schreiben, dieses In-Kontakt-Treten mit euch erheitert mich. Leider muss ich die Antworten der restlichen Fragen eurer Fantasie überlassen, denn wie ihr schon angetönt habt, könnte unter Umständen die hypothetische Möglichkeit bestehen, dass hier wer mitliest, der nicht Adressat dieses Schreibens ist. An dieser Stelle werte*r Unform-Träger*in: ein gepflegter Mittelfinger, ganz für Sie allein!
Ihr, meine Freund*innen und Gefährt*innen, sollt nie vergessen, dass ich euch fest in meinem Herzen trage, egal wo mich der Wind noch hinbringen sollte. Dass ich mit euch weiterhin für eine herrschaftsfreie Welt kämpfe, Seite an Seite, allen abertausenden Windmühlen des autoritären und liberalen Schreckens zum Trotz!
In vermissender Liebe und mit revolutionärer Solidarität
euer Gefährte aus dem Nirgendwo