[V Lenzer Verlagskollektiv] Emma Goldman: Meine zwei Jahre in Russland

Quelle: v lenzer

Als Emma Goldman 1919 aus den USA abgeschoben wird, kehrt sie voller Hoffnung nach Petrograd zurück. Sie hofft, dass die Oktoberrevolution von 1917 dort zu einer neuen, befreiten Gesellschaft führen würde. Zwei Jahre lang bleibt Goldman in Russland. Ihre späteren Publikationen über diese Zeit sind ein Bericht über die Bolschewistische Schreckensherrschaft. Heute können sie uns eine Warnung vor autoritären Ideologien des Kommunismus sein.

Der unter den Titeln »My Disillusionment in Russia« und »My Further Disillusionment in Russia« in den USA erschienene Bericht über Emma Goldmans Erlebnisse im (post)revolutionären Russland wurde von uns ins Deutsche übersetzt.

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Vorwort der Übersetzer*innen zum Buch

Rund einhundert Jahre sind vergangen, seit Emma Goldman ihre Eindrücke der damaligen Situation in Russland niedergeschrieben hat. Einhundert Jahre, das ist eine lange Zeit. Vieles hat sich seitdem verändert, aber vieles ist zumindest im Kern gleich geblieben. Bis heute gibt es Verfechter*innen eines Kommunismus, der sich hier und da positiv auf die russische Diktatur ab Oktober 1918 bezieht. Manch eine*r wünscht sich gar ein solches Regime im Ganzen zurück. Letzteres ist zwar eine bedeutungslose Minderheit, zumindest im deutschsprachigen Raum, dennoch arbeiten viele radikale Akteur*innen auch mit Menschen, die solche Ansichten vertreten, zusammen. Andere, nur punktuell positive Bezugnahmen auf das bolschewistische Regime sind dagegen häufiger zu vernehmen und die marxistische Vorstellung einer »Diktatur des Proletariats« ist weitläufig akzeptiert unter Kommunist*innen. Das Paradoxe daran: Zahlreiche Anarchist*innen, deren erklärtes Ziel die Beseitigung jeder Staatlichkeit ist, sehen keinen Widerspruch darin, mit kommunistischen Organisationen zusammenzuarbeiten, sich mit ihnen zu verbünden und gemeinsame Propaganda zu betreiben.

Ähnlich wie vor rund hundert Jahren (und darüber hinaus) scheint es eine vermeintlich ähnliche Analyse zu sein, die Anarchist*innen und Kommunist*innen verbindet: Der kapitalistische Staat muss beseitigt werden, damit anarchistische und kommunistische Konzepte von Freiheit verwirklicht werden können. In dem einen Fall jedoch soll dieser Staat zerstört werden, im anderen Fall geht es zunächst um eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in der – aus unserer Sicht unbegründeten – Hoffnung, dass sich dieser neue, kommunistische Staat irgendwann von selbst abschaffen wird. Diese beiden Prinzipien lassen sich unmöglich vereinen: Die Aneignung, Errichtung oder Aufrechterhaltung eines Staates auf der einen Seite kann unmöglich mit der Zerschlagung des Staates auf der anderen Seite in Einklang gebracht werden.

Freilich ist nicht jede*r, die*der sich Kommunist*in nennt, auch Bolschewist*in, befürwortet und verherrlicht (historische) Regime wie das in Russland oder spricht sich für eine »Diktatur des Proletariats« aus. Dennoch: Wer sich heute Kommunist*in nennt, tut das vor dem Hintergrund eines Diskurses, in dem zumindest das autoritäre Prinzip des kommunistischen Staates fest mit diesem Begriff verbunden zu sein scheint. Und es ist eben jenes Prinzip, das unseren anarchistischen Ideen so diametral entgegensteht. Deshalb kommen wir letztlich zu dem Schluss, dass kommunistische Vorstellungen gleich welcher Ausprägung mit unseren anarchistischen Ideen unvereinbar sind.

Indem wir Emma Goldmans Erfahrungsbericht ins Deutsche übersetzen, wollen wir zu einer Debatte darum beitragen. Wir wollen uns klar von jeder Form autoritärer Überzeugungen abgrenzen und das bedeutet für uns auch eine Abgrenzung von allen Ausprägungen kommunistischer Ideen, wie wir sie geschildert haben.

Die Revolution in Russland 1917/1918 verleitete schon damals viele Anarchist*innen dazu, falsche und auch verhängnisvolle Bündnisse mit den kommunistischen Akteur*innen in Russland einzugehen. Statt gemäß ihrer jahrelang vertretenen Positionen jede Form der Regierung, jede Form eines Staates abzulehnen und zu beseitigen, unterstützten viele Anarchist*innen die Bolschewiki bei der Errichtung ihres Staates – was nicht heißt, dass nicht auch viele andere Anarchist*innen weltweit von Beginn an erbittert gegen dieselben gekämpft haben. Auch Emma Goldman gehörte zu den Anarchist*innen, die mit den Bolschewiki paktierten. Noch in Amerika veranstaltete Emma Goldman eine Werbetour für sie und nachdem sie in Russland eingetroffen war, bedurfte es unzähliger Beispiele für die grausame Herrschaft der Bolschewiki, bevor Emma Goldman ihr Vertrauen in die Bolschewiki als »Hüter*innen der Revolution« verlor. Gefängnisse, Erschießungen, Inhaftierungen von Anarchist*innen, Prunk und dekadenter Wohlstand einiger weniger, während die Mehrheit an Hunger leidet und nichts zum Leben besitzt, all das sah Emma Goldman und fragte sich dennoch immer wieder: »Waren die Bolschewiki nicht dazu gezwungen, diese Zustände zu schaffen?« Bei der Niederschrift dieser Erlebnisse rechtfertigt Emma Goldman ihre Zurückhaltung damit, dass sie quasi als neutrale Beobachterin sich ein Gesamtbild verschaffen wollte, bevor sie ein Urteil fällte. Eine Rechtfertigung, die zwar für Goldman zu genügen scheint, die wir so jedoch nur schwer akzeptieren können. Als Anarchist*innen können wir keinen neutralen Standpunkt gegenüber Herrschaft, die sich in Russland überdeutlich äußerte, einnehmen. Uns erscheint es unvorstellbar, die zahlreichen Erlebnisse, die Emma Goldman in ihrer Erzählung beschreibt, von einem neutralen Standpunkt aus zu bewerten und die Beweggründe der Unterdrücker*innen den Interessen der Unterdrückten gegenüberzustellen. Für uns ist es die Existenz von Herrschaft selbst, deren Anwendung durch die Machthaber*innen und jede Bestrebung Herrschaft aufrechtzuerhalten oder zu errichten, die unsere Feindschaft erweckt.

Warum haben wir also Emma Goldmans Erzählung übersetzt? Uns geht es nicht um eine Bewertung von Emma Goldmans Handeln. Wir müssen nicht einverstanden mit all ihren Handlungen und Ansichten sein. Gerade die anfängliche Zurückhaltung Emma Goldmans eröffnet ihr Zugang zu vielen wichtigen kommunistischen Persönlichkeiten, deren Ansichten und Beweggründe in Emma Goldmans Erzählung anschaulich dargestellt werden. Ebenso wie der Widerstand gegen die bolschewistische Diktatur, der in anderen anarchistischen Erzählungen veranschaulicht wird, erscheint uns auch diese Perspektive aufschlussreich und mit Sicherheit angenehmer zu lesen als durch die Lektüre kommunistischer und bolschewistischer Propagandaschriften aus dieser Zeit, die zudem kaum die inneren Widersprüche, in denen sich auch einige der Kommunist*innen befinden, widerspiegeln. Was Emma Goldmans Erzählung unserer Ansicht nach leistet und für uns spannend macht, ist eine Betrachtung der inneren Funktionsweise der kommunistischen Diktatur in Russland. Eine Betrachtung, die die persönlichen Motivationen der Herrscher*innen einschließt, die uns die Herrscher*innen nicht bloß als skrupellose politische Machthaber*innen präsentiert, sondern als – zum Teil – freundliche und liebenswürdige Menschen, die auch einmal mit sich, ihrer Macht und ihren Entscheidungen hardern und diese dennoch treffen. Wir glauben, dass der Wert von Emma Goldmans Betrachtung genau darin liegt. Sie zeigt, wie Herrschaft an sich korrumpiert, wie selbst die Personen mit den »besten Absichten« – was uns freilich durchaus suspekt ist – durch die Zusammenarbeit mit der Herrschaft ihre Ideen verraten statt sie zu verwirklichen, und sie verdeutlicht uns, dass es keine kommunistischen Kompromisse in unserer Ablehnung von Herrschaft geben darf.

Auch wenn wir Emma Goldmans Schilderung ihrer Erlebnisse in Russland insgesamt spannend und aufschlussreich hinsichtlich einer Debatte um die Vereinbarkeit anarchistischer Positionen mit kommunistischen Vorstellungen finden, ist Emma Goldmans Perspektive in diesem Werk vielfach nicht die unsere. Das zeigt sich bereits daran, mit wem Emma Goldman in Russland ihrer Schilderung nach verkehrte. Neben zahlreichen Kommunist*innen der herrschenden Regierung und ihren Sympathisant*innen gehören nur verhältnismäßig wenige Anarchist*innen zu Emma Goldmans Bezugspersonen in Russland. Und der Großteil derjenigen Anarchist*innen, die Emma Goldman trifft, wird von ihr in syndikalistischen Organisationen verortet und/oder arbeitet mit der bolschewistischen Regierung zusammen. Es ist möglich, dass Emma Goldman in ihrer Schilderung viele Treffen bewusst ausspart, um Menschen vor Repression zu schützen, für die in ihrer Erzählung vermittelte Perspektive ist das jedoch einerlei.

Besonders hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die Emma Goldman aus ihren Erfahrungen zieht, ergibt sich stellenweise eine tiefe Kluft zwischen unseren Ideen und den Positionen Emma Goldmans. Es ist nicht so, dass wir allen Schlussfolgerungen Goldmans widersprechen würden, insgeheim haben wir uns zeitweise jedoch überlegt, ob wir das letzte Kapitel, Emma Goldmans Nachwort, das vor allem ihre Schlussfolgerungen darlegt, nicht lieber unterschlagen sollten. Das haben wir natürlich nicht gemacht, wir wollen es jedoch auch nicht einfach unkommentiert stehen lassen, weshalb wir im Folgenden zu zwei Aspekten daraus unsere Sichtweise schildern wollen:

I

In ihrem Nachwort gelangt Emma Goldman zu dem Schluss, dass der Anarchosyndikalismus aus ihrer Sicht erfolgsversprechende Lösungen zur Organisierung einer postrevolutionären Wirtschaft – und damit auch einer postrevolutionären Gesellschaft bereithalte. Auch wenn Emma Goldman betont, dass aus ihrer Sicht eine Neuorganisierung der Wirtschaft alleine keinesfalls ausreichend sein kann und zum Scheitern verurteilt ist, wenn nicht zugleich libertäre Ideen Verbreitung unter den Menschen fänden, können wir nicht nachvollziehen, wie Emma Goldman zu diesem Schluss kommen kann: Zwar stellt der Anarchosyndikalismus die Eigentumsverhältnisse einer Gesellschaft in Frage und will die Wirtschaft auf Basis von Selbstorganisation (durch gewerkschaftliche Organisationen) fortführen, jedoch mangelt es anarchosyndikalistischen Theorien unserer Ansicht nach an der Einsicht, dass die wirtschaftlichen Strukturen, die Produktionsmethoden und die Zentralisierung einer kapitalistischen Gesellschaft an sich in einem Maße herrschaftsvoll sind, sodass sie sich nicht einfach enthierarchisieren lassen. Zu glauben, dass es im Kern nur einer Abschaffung der Chef*innen, bzw. vielmehr ihres Austauschs durch gewählte Repräsentant*innen der Belegschaft bedarf, um eine selbstorganisierte Wirtschaftsweise ohne Hierarchien zu schaffen, ist für uns bestenfalls naiv und zeugt im schlimmsten Fall von den autoritären Sehnsüchten der Verfechter*innen dieser Idee, die sich auffallend oft selbst in der Position derjenigen sehen, die dann die Geschicke des wirtschaftlichen Lebens lenken.

Während Emma Goldman in einer anarchosyndikalistischen Organisation der Wirtschaft ein Bindeglied zwischen Stadt und Land sieht, fragen wir uns, ob die damals und in ihrem Wesen bis heute gängige Stadt-Land-Infrastruktur nicht eine herrschaftsvolle Art und Weise des Zusammenlebens ist, ebenso wie Fabriken, die auf Rohstoffe aus völlig anderen Regionen angewiesen sind und die nur in der Zusammenarbeit vieler Fabriken in der Lage sind, ihre (End-)Produkte herzustellen, für uns die Frage danach aufwerfen, inwiefern sich eine solche Wirtschaft überhaupt antiautoritär »organisieren« lässt. Wir haben keine konkreten Vorstellungen davon, wie ein wirtschaftliches Leben in einer postrevolutionären Gesellschaft aussehen könnte, wir wissen nicht einmal ob es unseren Vorstellungen gemäß überhaupt eine postrevolutionäre Gesellschaft – die ja dann irgendwo das Ende der Geschichte, ein unveränderliches Ideal darstellen würde – geschweige denn ein wirtschaftliches Leben darin gibt. Wir sind jedoch überzeugt davon, dass eine mehr oder weniger zentralistische Organisation der Gesellschaft – und im Falle des Anarchosyndikalismus wären das gewerkschaftliche Strukturen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft, ebenso wie die Fabriken selbst – keine antiautoritäre Form des Zusammenlebens sein kann. Jede solche Organisation wird unseren Vorstellungen zufolge früher oder später autoritäre Strukturen etablieren, jede solche Organisation lässt sich zur Durchsetzung individueller Interessen gegen die Interessen anderer instrumentalisieren. Nach dem, was Emma Goldman über die Wirtschaft unter dem bolschewistischen Regime berichtet hat, sehen wir unsere Ansichten nur bestärkt: Statt dass die Menschen die Belange, die ihr Leben betreffen (und dazu gehört auch die Produktion von Gütern), selbst organisieren, setzte das bolschewistische Regime auf eine autoritäre Wirtschaft, in der Entscheidungen zentral und von oben nach unten getroffen wurden. Der Anarchosyndikalismus stellt zwar das »von oben nach unten« in Frage und strebt nach einer Rätestruktur, die die Anführer*innen wählbar macht und die die Basis grundsätzlich mitbestimmen lässt, er stellt jedoch nicht die Zentralität der Wirtschaft in Frage oder zumindest nicht über ein gewisses Maß hinaus. Dadurch wird unserer Ansicht nach auch im Anarchosyndikalismus faktisch verhindert, dass die Menschen sich gemäß ihrer eigenen Interessen und Bedürfnisse selbst organisieren: Sie müssen ihre Bedürfnisse in einem langwierigen und vor allem politischen Prozess der Repräsentation mit anderen jenseits ihres direkten Umfelds abstimmen, die in den meisten Fällen von ihren Entscheidungen gar nicht betroffen wären. Der Sinn einer solchen Herangehensweise erschließt sich uns nicht, daher können wir nur zu dem Schluss kommen, dass den Ideen des Anarchosyndikalismus etwas Herrschaftsvolles anhaftet. Aber wir wollen uns hier eigentlich nicht an einer Kritik des Anarchosyndikalismus abarbeiten, das wurde bereits an vielen anderen Stellen getan. Uns geht es lediglich darum, Emma Goldmans abschließende Perspektive ihres Erlebnisberichts, die für uns keine ist, nicht unkommentiert stehen zu lassen. Daher belassen wir es hier bei dem Hinweis, dass anarchosyndikalistische Organisationen und Publikationen, von denen einige ja auch in Emma Goldmans Bericht erwähnt werden, nicht zufällig länger als irgendeine andere anarchistische Organisation oder Person mit den Bolschewiki kooperierten und entsprechend von den Bolschewiki auch geduldet wurden. Nicht die Terrorherrschaft der Bolschewiki, sondern vor allem ein Konflikt über das ökonomische Programm der Regierung setzt dieser Zusammenarbeit schließlich ein Ende. Dabei sei nicht gesagt, dass nicht auch Anarchosyndikalist*innen den Methoden der Bolschewiki ablehnend oder zumindest kritisch gegenübergestanden hätten, es ist vielmehr die Prioritätensetzung einiger einflussreicher anarchosyndikalistischer Organisationen, die uns beunruhigt, die, solange sie darin eine Perspektive sehen, ihre Vorstellungen einer Organisierung des ökonomischen Lebens Russlands zu verwirklichen, lieber mit einem Staat, der seine Bevölkerung brutal unterdrückt, zusammenarbeiten, statt diesen selbst und jede Bestrebung ihn am Leben zu erhalten von Anfang an zu sabotieren.

II

Im letzten Teil ihres Nachwortes widmet sich Emma Goldman der Frage, inwiefern mit einer Veränderung der sozialen Verhältnisse im Zuge einer Revolution auch eine Veränderung der Werte einhergehen muss. Ihre Überlegungen sind geprägt davon, dass sie das bolschewistische Motto »Der Zweck heiligt jedes Mittel« ablehnt, das sie zu Recht als problematische Einstellung, die durch die Bolschewiki ja auch zur Rechtfertigung autoritärer Handlungen gebraucht wurde, identifiziert. Dieser Meinung können wir uns anschließen. Der weiteren Schlussfolgerung Emma Goldmans, dass es Aufgabe der Revolution sei, eine neue Ethik zu schaffen, der sich jede Handlung unterzuordnen habe, dagegen keineswegs! Die herrschenden ethischen Prinzipien einer Gesellschaft dienen dazu, die Handlungen der Menschen unter eine bestimmte Norm zu unterwerfen, bestimmten Gefühlen, Empfindungen und Handlungswünschen der Menschen, insbesondere subversiven, keinen Raum zu geben. So wird beispielsweise gängigen ethischen Vorstellungen zufolge Gewalt für unvereinbar mit ethischem Handeln erklärt. Dabei wird jedoch (bewusst) ausgeklammert, dass bestimmte gewaltvolle Zustände, die die Menschen an den ihnen vorgesehenen Platz der Gesellschaft verweisen, sich einer bestimmten Gewalt bedienen und ohne den Einsatz von Gewalt nicht überwunden werden können. Das ist nur ein Beispiel dafür, inwiefern eine feste Moralvorstellung, eine statische Ethik dazu beiträgt, Menschen im Sinne eines Ideals zu unterdrücken.

Wenn eine Revolution die alte(n) Ethik(en) durch eine neue Ethik, wie Emma Goldman schreibt, ersetzen soll, stellt sich uns die Frage, wozu dann diese Ethik dienen soll? Unter welches Ideal soll diese Ethik die Menschen unterwerfen? Und ist die Unterwerfung unter ein solches »revolutionäres« Ideal in irgendeiner Weise besser, als die unter das gängige Ideal einer friedlichen, demokratischen Gesellschaft? Zu glauben, dass sich die unterschiedlichen Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Beweggründe, Absichten, Ziele der Menschen und alles andere, was üblicherweise in eine Ethik hineinspielt, verallgemeinern und als eine »ethische« Norm festhalten ließe, folgt unserer Auffassung nach einer Vorstellung, die nicht umhin kann, das soziale Zusammenleben der Menschen zu verallgemeinern und so unter Kontrolle zu bringen. Das mag ein unbewusster Drang sein, der aufgrund dessen, wie die Welt um uns herum funktioniert, auch nicht sonderlich überraschend ist, allerdings ist es ein Drang, den wir bekämpfen müssen, wenn wir autoritäre Prinzipien verneinen wollen.

Wir sind der Auffassung, dass nur eine Zerstörung der alten ethischen Werte ohne die Schaffung neuer Werte, die sie ersetzen, die Grundlage für ein Leben in Freiheit sein kann.

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