Quelle: autonome antifa
Was war da los in den letzten Tagen im 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten? Der medialen Berichtserstattung zufolge habe es einen unübersichtlichen Haufen an Informationen und Demonstrationen sowie vermeintlichen „Gegendemonstranten“ gegeben. Für die meisten Medien, die Polizei und die Politik würden die Ereignisse aus einem aus dem Ausland „importierten Krieg“ zwischen unterschiedlichen „Ethnien“ resultieren, der nun im „Problembezirk“ Favoriten fortgesetzt wird. Wir versuchen mit diesem Statement eine erste Einschätzung der Lage zu liefern, wollen auf Leerstellen antifaschistischer Arbeit in Wien hinweisen und Perspektiven diskutieren.
Es ist ein Kampf zwischen Faschisten und Antifaschist*innen, zwischen progressiven Linken und rechtsextremen „Grauen Wölfen“ und zwischen Feminist*innen und Islamisten.
Selbstredend ist es kein Kampf, der zwischen zwei unterschiedlichen „Ethnien“ verläuft, der da in Favoriten ausgetragen wird. Es ist ein Kampf zwischen Faschisten (1) und Antifaschist*innen, zwischen progressiven Linken und rechtsextremen „Grauen Wölfen“ und zwischen Feminist*innen und Islamisten. Es ist ein politischer Kampf, der auch als solcher benannt und geführt werden muss. Daher ist es auch von besonderer Wichtigkeit, den ethnisierenden Narrativen u.a. von Innenminister Nehammer und Kanzler Kurz (beide rechts-autoritäre ÖVP), die von „fremden Konflikten“ schwadronieren, politische Analysen entgegenzusetzen und auf die Auswirkungen damit verbundener Deutungsmuster hinzuweisen. Beide scheinen bereits jetzt die perfekte Lösung zu haben: Mehr Polizei im Bezirk und mehr (rassistische) Kontrollen. Besonders zynisch erscheint dieser Ruf nach dem „harten Durchgreifen“, wenn bedacht wird, dass von Seiten der ÖVP und auch der SPÖ seit vielen Jahren mit den „Grauen Wölfen“ und ihren Vereinen kooperiert wird. Antifaschist*innen weisen seit langem auf die verschiedenen Verstrickungen der „Wölfe im Schafspelz“ in die österreichische Innenpolitik hin (). Dass die polizeilichen Kontrollen zuallererst migrantische Jugendliche, Drogenkonsument*innen und andere marginalisierte Gruppen treffen werden, versteht sich von alleine. Wenig überraschend gehen die autoritären Maßnahmen am eigentlichen Problem – nämlich der verstärkten Präsenz des türkischen Rechtsextremismus im öffentlichen Raum – vorbei.
Wie sind die Faschisten im 10. Bezirk aber organisiert und wie kann man ihnen schaden?
Diese Frage wird uns von nun an noch länger beschäftigen. Die aktuellen faschistischen Aggressionen haben bereits am 1. Mai begonnen, als „Graue Wölfe“ eine linke Kundgebung am Keplerplatz in Favoriten angegriffen haben. Diese Angriffe haben sich mehrmals wiederholt, bis sich die Lage vergangene Woche am Mittwoch (24.06.) zuspitzte. Eine Kundgebung kurdischer Feminist*innen gegen Femizide am Viktor-Adler-Markt in Favoriten wurde von türkischen Rechtsextremen mehrfach unter den Augen der anwesenden Bullen angegriffen. Anschließend sammelten sich die Faschisten vor dem Ernst-Kirchweger-Haus (EKH), auch hier machte die Polizei keine Anstalten, die Versammlung aufzulösen. Wie sich in den darauf folgenden Tagen wiederholt
zeigen sollte, fungierte der wenige Meter vom EKH entfernte Wielandpark als beliebter Sammelort für die Faschisten. So auch an diesem Mittwochabend, in dessen Verlauf es mehrmals zu Zusammenstößen zwischen Antifaschist*innen und Rechtsextremen kam, auf die mit einer spontanen antifaschistischen Demonstration zum Hauptbahnhof geantwortet wurde.
Am Tag darauf (Donnerstag 25.06.) spitzte sich die Lage weiter zu und es kam zum ersten Höhepunkt der rechtsextremen Eskalation. Wieder versammelten sich kurdische und andere linke Kräfte im Bezirk, um im Zuge einer Kundgebung auf die Angriffe aufmerksam zu machen. Die anschließende Demonstration wurde an fast jeder Straßenecke von Faschisten provoziert oder angegriffen, neben unzähligen „Wolfsgrüßen“ waren auch Zeichen des IS und der Muslimbruderschaft zu sehen. Nachdem die Demonstration vorbei war, sammelten sich im Wielandpark erneut mehrere hunderte „Wölfe“ und Jugendliche und zogen unter „Allahu Akbar“-Rufen von dort zum EKH los, bewarfen das Haus mit Flaschen, Steinen und pyrotechnischen Gegenständen und versuchten, die Türen einzutreten. Zudem wurden die Fensterscheiben des linken türkisch-kurdischen Verein DIDF eingeschlagen. Den anwesenden Antifaschist*innen gelang es innerhalb von Minuten, den Angriff abzuwehren und die Aggressoren in die Flucht zu schlagen, während die Polizei aus der Ferne zusah.
Die nächste Eskalation durch die Rechtsextremen ließ nicht lange auf sich warten und folgte am nächsten Tag (Freitag 26.07.). Hunderte Antifaschist*innen sammelten sich als Solikundgebung vor dem EKH – eine enttäuschende Anzahl, angesichts der andauernden Bedrohung und nachdem eine der wichtigsten linken Institutionen in Wien von 200-300 Faschisten angegriffen wurde. Besonders irritierend erscheint die geringe solidarische Beteiligung in Anbetracht der sehr gut besuchten Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt der vergangenen Wochen. Umso deutlicher zeigt sich, dass es hier offensichtlich ein Problem der Positionierung und Lageeinschätzung in Teilen der Wiener Linken gibt. Nichtsdestotrotz setzte sich am Freitag, nach einer kämpferischen Auftaktkundgebung vor dem EKH eine entschlossene Demonstration in Bewegung, die jedoch (erneut) bereits nach zehn Metern mit „Wolfsgrüßen“ empfangen wurde. Auf die Provokation folgten schnelle und adäquate Reaktionen, woraufhin die Bullen die antifaschistische Demonstration über mehrere Stunden kesselten, während die Faschisten im Bezirk scheinbar tun und lassen konnten, was sie wollten. Es gab mehrere Versuche der Rechtsextremen, die antifaschistische Demo zu konfrontieren und unzählige Angriffe auf die Bullen, die die Lage im Bezirk bereits zum dritten Mal in Folge nicht unter Kontrolle bringen konnten und/oder wollten. Die Demonstration wurde schließlich unter massivem Polizeiaufgebot zum Hauptbahnhof umgeleitet. Es scheint, als wäre den Bullen selbst in der dritten Angriffsnacht in Folge nicht klar gewesen, wer die Aggressoren sind. Abseits der Tatsache, dass die Kundgebung und anschließende Demonstration mehrfach attackiert und ohne Unterbrechung aus mehreren Richtungen von der Polizei abgefilmt wurde, durften Teilnehmer*innen der Demo, auf polizeiliche Anweisung hin, den Endpunkt der Demo ausschließlich in kleinen Gruppen zu maximal zehn Personen verlassen. Die Konsequenz dieser gefährdenden Polizeitaktik ließ nicht lange auf sich warten: einige Antifaschist*innen wurden am Hauptbahnhof mit Stangen und Holzlatten attackiert. Auch dieser Angriff konnte in erster Linie durch antifaschistischen Selbstschutz abgewehrt werden, auch wenn es zu Verletzungen kam.
Der Samstag (27.06.) verlief schließlich um einiges ruhiger. Eine Großdemonstration zog vom Columbusplatz mit 2 000 Teilnehmer*innen zur türkischen Botschaft. Wir sehen einen Fehler in der gewählten Route, weil der Bezirk dadurch verlassen werden musste. Es wäre ein wichtiges Zeichen gewesen, durch den Bezirk zu gehen, Präsenz zu zeigen und zum Wielandpark und Reumannplatz zu ziehen, die sich als Sammelorte für spätere Angriffe etabliert hatten.
Die Angriffe der letzten Tage waren Angriffe auf ein geteiltes politisches Ziel, jenseits der Zwänge von Patriarchat, Staat, Kapital und Nation.
Wenig überraschend ist zunächst, dass wir von den Bullen keinen Schutz erwarten können. Wenn Faschist*innen provozieren, drohen und zuschlagen, müssen wir uns immer selbst zur Wehr setzen – das wurde die letzten Tage wieder mehr als deutlich. In der vergangenen Woche hat sich jedoch auch klar gezeigt, dass es eine große Leerstelle in der antifaschistischen Linken in Wien gibt. Wir kennen zu wenige Strukturen und Personen des türkischen Rechtsextremismus, es fehlt an Recherche und Analysen. Nach den Kämpfen im Bezirk ist uns immer noch nicht ganz klar, wie sich die Faschisten organisieren, wie wir sie erkennen können und, ob es sich mehrheitlich um organisierte Rechtsextreme handelt. Daher können wir bislang eher mit Eindrücken als mit Analysen des Spektrum aufwarten: Einiges an Kommunikation scheint über das Social-Media-Tool „TikTok“ zu laufen. Die hier veröffentlichten Videos lassen den Schluss zu, dass ein Großteil der Aggressoren Jugendliche sind. Unser Eindruck ist, dass der Mob, der die letzten Tage im Bezirk wütete, eine Mischung aus organisierten „Grauen Wölfen“ und Islamisten auf der einen Seite und frustrierten Kids auf der anderen Seite ist. Auf Fotos und Videos ist zu erkennen, dass die Jugendlichen teilweise unter 15 Jahre alt sind. Sie reden davon, Steine zu sammeln und drohen Linken mit sexualisierter Gewalt. Klar ist, dass die Angriffe strategisch und taktisch koordiniert wurden und gezielt Jugendliche vorgeschickt wurden.
Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass wir ein dialektisches Verständnis der Lebenssituation dieser Jugendlichen für notwendig halten. Sie sind gleichzeitig einerseits betroffen von Rassismus und dementsprechend alltäglich auch potenzielles Opfer von Polizeigewalt. Andererseits sind sie für ihr Denken und Handeln als Faschisten ernst zu nehmen und dieses Denken und Handeln muss entsprechend beantwortet werden. Hierfür gibt es keine Entschuldigung. Denn gerade im männerbündischen Charakter, den autoritären Aggressionen gegen Feminist*innen, im Nationalismus und Antisemitismus zeigen sich die ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Spektren der extremen Rechten. Denn von rechtsextremen Burschenschaften über die „Identitären“ hin zu den „Grauen Wölfen“, teilen die Gruppierungen weit mehr, als ihren Anhänger*innen oft lieb ist.
Wenn sich allgemein etwas in den vergangenen Tagen gezeigt hat, dann, dass unsere Waffe im Kampf gegen all jene Menschenfeinde, die im Wahn ihrer Ideologie andere verletzen und ihren Tod in Kauf nehmen, unsere Solidarität ist. Wir lassen niemanden alleine. Wir stehen ein, Schulter an Schulter für eine bessere, eine befreite Gesellschaft. Die Angriffe der letzten Tage waren Angriffe auf ein geteiltes politisches Ziel, jenseits der Zwänge von Patriarchat, Staat, Kapital und Nation. Unsere Antwort muss möglichst schnell erfolgen. Wir brauchen zunächst eine noch engere Vernetzung mit den progressiven Kräften der türkischen und kurdischen Linken in Wien, um uns weiterhin gegenseitig zu unterstützen und Recherchen über die türkischen Faschisten zu erstellen. Ob sich die Lage in den kommenden Wochen wieder beruhigt oder, ob sich die Angriffe wiederholen, bleibt abzuwarten. Langfristig wird es darum gehen müssen, den „Grauen Wölfen“ zu zeigen, dass der Bezirk nicht ihr Spielfeld ist, sie nicht die selbsternannten „Wächter von Favoriten“ sind und ihre faschistische und islamistische Hetze nicht toleriert wird.
(1)
Wir sprechen an dieser Stelle von Faschisten um deutlich zu machen, dass sich beinahe ausnahmslos Männer an den gewaltsamen Angriffen beteiligt haben. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch Frauen* gibt, die sich im Kontext der „Grauen Wölfe“ oder anderer türkisch-faschistischer oder rechtsextremer Gruppen organisieren und mit dieser Ideologie sympathisieren.